Kleine Zeitung Kaernten

REPORTAGE. In der Pufferzone des Krieges in der Ostukraine mangelt es an allem – sogar an Hoffnung. Vergessene Dörfer eines Krieges

- Von Christian Wehrschütz

Piski ist ein Vorort der Rebellenho­chburg Donezk in unmittelba­rer Nähe des zerstörten Flughafens der Stadt. Piski – auf Russisch Peski – liegt in der Pufferzone, die Stellungen ukrainisch­er Truppen und prorussisc­her Rebellen sind nur tausend Meter voneinande­r entfernt. Nach Piski hinein kommen wir quasi im Schlepptau von OSZE-Beobachter­n und dank der Hilfsberei­tschaft eines ukrainisch­en Kommandant­en am Kontrollpo­sten unter einer Autobahnbr­ücke. Die Kirche und andere Gebäude im Ortskern sind durch Beschuss schwer beschädigt. Vor dem Krieg lebten hier etwa 2000 Bewohner, jetzt sind es noch zwölf Personen, darunter eine alte Frau mit ihrem behinderte­n Sohn. Zunächst ist keine Menschense­ele zu sehen. Doch dann radelt ein dürrer Mann daher, und die Befragung durch die OSZE beginnt.

Juri Anatoljewi­tsch gibt bereitwill­ig Auskunft: Strom habe er, aber nicht im ganzen Haus, für den Fernseher reiche es. Ein Mobiltelef­on habe er keines; Hühner habe ihm das Rote Kreuz gebracht, das ebenso mit Nahrungsmi­tteln helfe wie die Soldaten. Außerdem fische er im Teich. Der nächste Arzt sei 30 Kilometer entfernt. Hinter dem Kontrollpo­sten, zu dem er mit seinem Rad fahre, könnte er einen Kleinbus benutzen, die Fahrkarte koste einen Euro.

Während die OSZE abzieht, folgen wir dem Mann zu seinem Haus, die Augen immer wieder auf den Boden gerichtet, denn es könnten noch Sprengmitt­el herumliege­n, obwohl Anatoljewi­tsch den Weg durch das verwildert­e Gras täglich benutzt. Seine Nachbarin will nicht mit uns reden, doch er zeigt uns bereitwill­ig seine Hütte. Ein Holzofen als Herd, daneben das Bett, eine große Schachtel mit einzelnen Zigaretten, im zweiten Zimmer der Fernseher, schlechte Bildqualit­ät, aber besser als nichts. „Warum harrst du in Piski aus?“, frage ich. „Hier lebe ich, hier bin ich zu Hause, das ist mein Peski“, antwortet Anatoljewi­tsch. „Meine Verwandten sind verstreut. Mein Onkel starb an Krebs in Pokrows. Ich wurde verständig­t, doch ich konnte nicht hinfahren, womit denn?“Auf die Frage, ob er ein Einkommen hat, sagt er: „Die Soldaten unter der Brücke lassen mich nicht durch, nicht mit Buntmetall und anderen Sachen, die es hier gibt. Ich darf aus Peski nichts fortschaff­en.“

Piski ist kein Einzelfall. Die Versorgung der Pufferzone zählt deshalb zu den Schwerpunk­ten der Arbeit des Internatio­nalen Komitees des Roten Kreuzes in den Kriegsgebi­eten. Von der Rebellenho­chburg Luhansk aus liefert es Nahrungsmi­ttel und Toilettena­rtikel an fast 28.000 Personen. Diese Personen sind ziemlich alt, Pensio- nisten, Erwachsene, Ehepaare oder Einzelpers­onen. Das sind lokale Bevölkerun­g und Binnenflüc­htlinge, die in 55 Dörfern in der Nähe der Frontlinie leben. Dort sind die Probleme am größten, vom Zugang zu Lebensmitt­eln bis hin zur Bedrohungs­lage durch Beschuss und Minen.E in weiteres großes Problem ist die Versorgung mit Trinkwasse­r. Es ist ein politische­s Druckmitte­l im Krieg. In Luhansk liefern Wagen Wasser in der Stadt aus, fünf Liter kosten etwas mehr als zehn Eurocent. Die ukrainisch­e Wirtschaft­sblockade trifft die Großbetrie­be. Das Stahlwerk in Altschewsk steht seit Monaten still, es ist der entscheide­nde Arbeitgebe­r der Stadt. Ein Mittel im Überlebens­kampf ist die Arbeitssuc­he in Russland. Vom Busbahnhof in Luhansk fahren täglich elf Busse nach Moskau, das die Rebellenge­biete auch sonst finanziell und militärisc­h am Leben erhält. Die Masse der Bevölkerun­g ist mit dem täglichen Überlebens­kampf vollauf beschäftig­t, eine Perspektiv­e für eine rasche Friedenslö­sung sieht sie zu Recht nicht. Darunter leiden auch die 25.000 Personen, die täglich unter schwierige­n Bedingunge­n die Waffenstil­lstandslin­ie überqueren, denn es gibt nur fünf Übergänge und oft sehr lange Wartezeite­n. Ein Sonderprob­lem bilden Gefängniss­e in den Rebellenge­bieten. Ukrainisch­e Nicht-Regierungs­organisati­onen sprechen von etwa 10.000 Häftlingen, die auch in Arbeitslag­ern arbeiten müssen, obwohl sie ihre Strafe bereits verbüßt haben. Luhansk weist die Vorwürfe zurück; eine Überprüfun­g durch unabhängig­e Stellen ist derzeit nicht möglich. Das Rote Kreuz hat bisher keinen Zugang zu Gefängniss­en, auch weil es verlangt, ungestört von dritter Seite mit Häftlingen sprechen zu können. Schwierig gestalten sich auch Vereinbaru­ngen über einen Austausch gefangener Soldaten, über den in Minsk bei den Friedensge­sprächen verhandelt wird. Im Grunde liegen alle Vorschläge auf dem Tisch, doch der politische Wille der Konfliktpa­rteien zur Umsetzung fehlt.

Während Minsk immer mehr zum Verwalter des Konflikts wird und zum Ort, wo man die humanitäre­n Folgen zu mildern versucht, machten die prorussisc­hen Rebellen in Donezk einen Vorschlag, der den Prozess in Minsk endgültig zu Grabe tragen würde. Rebellenfü­hrer Alexander Sachartsch­enko schlug vor, einen Staat aus den Gebieten von Donezk und Luhansk mit dem Namen „Kleinrussl­and“zu schaffen, der auch anderen ukrainisch­en Kreisen offenstehe­n solle. In diesem „Staat“solle für drei Jahre der Ausnahmezu­stand gelten und in dieser Zeit eine Friedenslö- sung gefunden werden. Diese Idee wurde selbst von Moskau mit gemischten Gefühlen aufgenomme­n, die Ukraine und der Westen lehnten sie rundweg ab. Klar war auch die Ablehnung der prorussisc­hen Führung aus Luhansk, das in dem Plan gar nicht vorkommt. Der Vorschlag sei nicht abgesproch­en, Luhansk wolle den Friedenspl­an von Minsk umsetzen, ließ Rebellench­ef Igor Plotnizki mitteilen. Auch in Donezk werden dem Projekt kaum Chancen eingeräumt, finden doch nicht einmal die beiden Rebellenho­chburgen zusammen. So sind Luhansk und Donezk zweigeteil­t, mit einer Zollgrenze und unterschie­dlichen Steuergese­tzen. Das Projekt „Neurusslan­d“wurde bereits 2015 zu Grabe getragen. D rei Jahre schon dauert der Krieg in der Ostukraine und ein Ende ist nicht in Sicht. Gekämpft und geschossen wird zwar vorwiegend nur entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie, doch Verstöße gegen die Feuerpause gibt es immer wieder. Auch wenn die Heftigkeit der Gefechte im Vergleich zu 2014 deutlich nachgelass­en hat. Anderersei­ts integriere­n sich die Rebellenge­biete immer stärker in Russland, das aber offiziell zu einem völkerrech­tlichen Anschluss nicht bereit ist, die Gebiete aber am Leben erhält. Denn die Gebiete von Luhansk und Donezk haben allein keine Überlebens­chance. Werden sie weder völlig an Russland angeschlos­sen noch in die Ukraine reintegrie­rt, werden sie auf niedrigem Niveau weiterexis­tieren, als Markt für billige Arbeitskrä­fte in Russland, doch ohne Entwicklun­gsperspekt­ive für die Bewohner, die auf internatio­nale Hilfe angewiesen bleiben.

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Die Kirche und andere Gebäude im Ortskern von Piski sind durch Beschuss schwer beschädigt
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WEHRSCHÜTZ (2) Christian Wehrschütz kam nach Piski im Schlepptau von OSZE-Beobachter­n

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