REPORTAGE. In der Pufferzone des Krieges in der Ostukraine mangelt es an allem – sogar an Hoffnung. Vergessene Dörfer eines Krieges
Piski ist ein Vorort der Rebellenhochburg Donezk in unmittelbarer Nähe des zerstörten Flughafens der Stadt. Piski – auf Russisch Peski – liegt in der Pufferzone, die Stellungen ukrainischer Truppen und prorussischer Rebellen sind nur tausend Meter voneinander entfernt. Nach Piski hinein kommen wir quasi im Schlepptau von OSZE-Beobachtern und dank der Hilfsbereitschaft eines ukrainischen Kommandanten am Kontrollposten unter einer Autobahnbrücke. Die Kirche und andere Gebäude im Ortskern sind durch Beschuss schwer beschädigt. Vor dem Krieg lebten hier etwa 2000 Bewohner, jetzt sind es noch zwölf Personen, darunter eine alte Frau mit ihrem behinderten Sohn. Zunächst ist keine Menschenseele zu sehen. Doch dann radelt ein dürrer Mann daher, und die Befragung durch die OSZE beginnt.
Juri Anatoljewitsch gibt bereitwillig Auskunft: Strom habe er, aber nicht im ganzen Haus, für den Fernseher reiche es. Ein Mobiltelefon habe er keines; Hühner habe ihm das Rote Kreuz gebracht, das ebenso mit Nahrungsmitteln helfe wie die Soldaten. Außerdem fische er im Teich. Der nächste Arzt sei 30 Kilometer entfernt. Hinter dem Kontrollposten, zu dem er mit seinem Rad fahre, könnte er einen Kleinbus benutzen, die Fahrkarte koste einen Euro.
Während die OSZE abzieht, folgen wir dem Mann zu seinem Haus, die Augen immer wieder auf den Boden gerichtet, denn es könnten noch Sprengmittel herumliegen, obwohl Anatoljewitsch den Weg durch das verwilderte Gras täglich benutzt. Seine Nachbarin will nicht mit uns reden, doch er zeigt uns bereitwillig seine Hütte. Ein Holzofen als Herd, daneben das Bett, eine große Schachtel mit einzelnen Zigaretten, im zweiten Zimmer der Fernseher, schlechte Bildqualität, aber besser als nichts. „Warum harrst du in Piski aus?“, frage ich. „Hier lebe ich, hier bin ich zu Hause, das ist mein Peski“, antwortet Anatoljewitsch. „Meine Verwandten sind verstreut. Mein Onkel starb an Krebs in Pokrows. Ich wurde verständigt, doch ich konnte nicht hinfahren, womit denn?“Auf die Frage, ob er ein Einkommen hat, sagt er: „Die Soldaten unter der Brücke lassen mich nicht durch, nicht mit Buntmetall und anderen Sachen, die es hier gibt. Ich darf aus Peski nichts fortschaffen.“
Piski ist kein Einzelfall. Die Versorgung der Pufferzone zählt deshalb zu den Schwerpunkten der Arbeit des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in den Kriegsgebieten. Von der Rebellenhochburg Luhansk aus liefert es Nahrungsmittel und Toilettenartikel an fast 28.000 Personen. Diese Personen sind ziemlich alt, Pensio- nisten, Erwachsene, Ehepaare oder Einzelpersonen. Das sind lokale Bevölkerung und Binnenflüchtlinge, die in 55 Dörfern in der Nähe der Frontlinie leben. Dort sind die Probleme am größten, vom Zugang zu Lebensmitteln bis hin zur Bedrohungslage durch Beschuss und Minen.E in weiteres großes Problem ist die Versorgung mit Trinkwasser. Es ist ein politisches Druckmittel im Krieg. In Luhansk liefern Wagen Wasser in der Stadt aus, fünf Liter kosten etwas mehr als zehn Eurocent. Die ukrainische Wirtschaftsblockade trifft die Großbetriebe. Das Stahlwerk in Altschewsk steht seit Monaten still, es ist der entscheidende Arbeitgeber der Stadt. Ein Mittel im Überlebenskampf ist die Arbeitssuche in Russland. Vom Busbahnhof in Luhansk fahren täglich elf Busse nach Moskau, das die Rebellengebiete auch sonst finanziell und militärisch am Leben erhält. Die Masse der Bevölkerung ist mit dem täglichen Überlebenskampf vollauf beschäftigt, eine Perspektive für eine rasche Friedenslösung sieht sie zu Recht nicht. Darunter leiden auch die 25.000 Personen, die täglich unter schwierigen Bedingungen die Waffenstillstandslinie überqueren, denn es gibt nur fünf Übergänge und oft sehr lange Wartezeiten. Ein Sonderproblem bilden Gefängnisse in den Rebellengebieten. Ukrainische Nicht-Regierungsorganisationen sprechen von etwa 10.000 Häftlingen, die auch in Arbeitslagern arbeiten müssen, obwohl sie ihre Strafe bereits verbüßt haben. Luhansk weist die Vorwürfe zurück; eine Überprüfung durch unabhängige Stellen ist derzeit nicht möglich. Das Rote Kreuz hat bisher keinen Zugang zu Gefängnissen, auch weil es verlangt, ungestört von dritter Seite mit Häftlingen sprechen zu können. Schwierig gestalten sich auch Vereinbarungen über einen Austausch gefangener Soldaten, über den in Minsk bei den Friedensgesprächen verhandelt wird. Im Grunde liegen alle Vorschläge auf dem Tisch, doch der politische Wille der Konfliktparteien zur Umsetzung fehlt.
Während Minsk immer mehr zum Verwalter des Konflikts wird und zum Ort, wo man die humanitären Folgen zu mildern versucht, machten die prorussischen Rebellen in Donezk einen Vorschlag, der den Prozess in Minsk endgültig zu Grabe tragen würde. Rebellenführer Alexander Sachartschenko schlug vor, einen Staat aus den Gebieten von Donezk und Luhansk mit dem Namen „Kleinrussland“zu schaffen, der auch anderen ukrainischen Kreisen offenstehen solle. In diesem „Staat“solle für drei Jahre der Ausnahmezustand gelten und in dieser Zeit eine Friedenslö- sung gefunden werden. Diese Idee wurde selbst von Moskau mit gemischten Gefühlen aufgenommen, die Ukraine und der Westen lehnten sie rundweg ab. Klar war auch die Ablehnung der prorussischen Führung aus Luhansk, das in dem Plan gar nicht vorkommt. Der Vorschlag sei nicht abgesprochen, Luhansk wolle den Friedensplan von Minsk umsetzen, ließ Rebellenchef Igor Plotnizki mitteilen. Auch in Donezk werden dem Projekt kaum Chancen eingeräumt, finden doch nicht einmal die beiden Rebellenhochburgen zusammen. So sind Luhansk und Donezk zweigeteilt, mit einer Zollgrenze und unterschiedlichen Steuergesetzen. Das Projekt „Neurussland“wurde bereits 2015 zu Grabe getragen. D rei Jahre schon dauert der Krieg in der Ostukraine und ein Ende ist nicht in Sicht. Gekämpft und geschossen wird zwar vorwiegend nur entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie, doch Verstöße gegen die Feuerpause gibt es immer wieder. Auch wenn die Heftigkeit der Gefechte im Vergleich zu 2014 deutlich nachgelassen hat. Andererseits integrieren sich die Rebellengebiete immer stärker in Russland, das aber offiziell zu einem völkerrechtlichen Anschluss nicht bereit ist, die Gebiete aber am Leben erhält. Denn die Gebiete von Luhansk und Donezk haben allein keine Überlebenschance. Werden sie weder völlig an Russland angeschlossen noch in die Ukraine reintegriert, werden sie auf niedrigem Niveau weiterexistieren, als Markt für billige Arbeitskräfte in Russland, doch ohne Entwicklungsperspektive für die Bewohner, die auf internationale Hilfe angewiesen bleiben.