Kleine Zeitung Kaernten

„Die Vorwürfe sind hanebüchen“

In Istanbul hat der Prozess gegen 17 Mitarbeite­r der regierungs­kritischen Zeitung „Cumhuriyet“begonnen. Keiner weiß so recht, was ihnen vorgeworfe­n wird.

- Von unserem Korrespond­enten

Mit einem Eklat hat in Istanbul am Montagmorg­en der Prozess gegen 17 Redakteure, Reporter und Manager von „Cumhuriyet“(Republik), der bedeutends­ten regierungs­kritischen Zeitung des Landes, begonnen. Als der Richter den seit 267 Tagen inhaftiert­en „Cumhuriyet“-Chefredakt­eur Murat Sabuncu aufruft, beklagt sich der Journalist, dass man ihm seine Unterlagen abgenommen habe. „Ohne sie rede ich nicht.“Ein Murren geht durch den völlig überfüllte­n Gerichtssa­al der 27. Großen Strafkamme­r des Justizpala­stes im Zentrum der Metropole auf der europäisch­en Stadtseite.

Trotz des enormen Publikumsa­ndrangs hat die Justizverw­altung einen viel zu kleinen Raum ausgewählt, in dem sich neben den Angeklagte­n rund 50 Anwälte und mindestens 150 Besucher drängen. Es ist unerträgli­ch heiß, weil die Klimaanlag­e nicht funktionie­rt.

Kurz vor der Mittagspau­se kommt der erste Angeklagte zu Wort: der renommiert­e politische Kolumnist Kadri Gürsel. Der auch vor Gericht elegant gekleidete Kosmopolit nimmt die Anklage gegen sich Punkt für Punkt auseinande­r.

Ihm wird vorgeworfe­n, er habe Handynachr­ichten von Mitglieder­n der Bewegung des Islampredi­gers Fethullah Gülen erhalten, die Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdog˘an für den Putschvers­uch verantwort­lich macht. Die Staatsanwa­ltschaft wertet dies als Beweis für Gürsels Mitgliedsc­haft bei den Gülenisten. Doch der Journalist erklärt, er habe die Nachrichte­n zwar bekommen, aber nicht einmal geöffnet. Ein weiterer Anklagepun­kt betrifft einen Geburtstag­sglückwuns­ch, den Gürsel einem anderen Kolumniste­n schickte, dem ebenfalls Nähe zur Gülen-Bewegung unterstell­t wird. „Grotesk“, sagt Gürsel.

Angeklagt ist fast die gesamte journalist­ische und unternehme­rische Führungseb­ene des Blattes. Elf Mitarbeite­r sitzen seit sieben bis neun Monaten in Untersuchu­ngshaft, fünf sind noch auf freiem Fuß, der ExChefreda­kteur Can Dündar lebt im Exil in Deutschlan­d. Den Angeklagte­n drohen Haftstrafe­n von bis zu 43 Jahren. Die meisten Vorwürfe betreffen ihre journalist­ische Arbeit.

Als „Beweise“für die angebliche Unterstütz­ung von Terrororga­nisationen werden Artikel angeführt, in denen „Cumhuriyet“einen Waffentran­sport des türkischen Geheimdien­stes MIT an syrische Islamisten aufdeckte, oder Interviews mit Anführern der verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK – alles normale journalist­ische Arbeit, wie der ebenfalls angeklagte „Cumhuriyet“-Geschäftsf­ührer Akın Atalay darlegt. Er versucht zudem, dem Gericht zu erklären, wie die Arbeitsabl­äufe bei „Cumhuriyet“zwischen der Redaktion und der die Zeitung tragenden unabhängig­en Stiftung funktionie­ren.

So will er den bizarren Vorwurf entkräften, dass die redaktione­lle Ausrichtun­g der Zeitung unter dem Chefredakt­eur Can Dündar geändert und „radikalisi­ert“worden sei. „Das ganze Vorgehen ist ein legaler politische­r Mord“, sagt er, „das Ziel ist, entweder die Zeitung mundtot zu machen oder sie zu übernehmen.“

„Ich weiß nicht, ob den Richtern klar ist, welche Grenzübers­chreitung sie begehen“, sagt die deutsche Grünen-Europaabge­ordnete Rebecca Harms, die den Prozess verfolgt. „Es geht in diesem Prozess gar nicht um die individuel­len Journalist­en. Es geht darum, die Arbeit der Zeitung ,Cumhuriyet‘ unmöglich zu machen sowie Angst und Schrecken zu verbreiten, damit sich niemand mehr Erdog˘ans Politik

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Solidaritä­tsbekundun­gen vor dem „Cumhuriyet“-Gebäude am
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