Überfordert die Strafgerichte nicht
Gerald Ruhri lehnt eine neuerlicheStrafrechtsreform ab, da die jüngste Verschärfung der Strafen ausreiche.
Am 1. 1. 2016 ist die umfangreichste Änderung des Strafgesetzbuches seit 1975 in Kraft getreten. Vorrangiges Ziel war es, das kritisch wahrgenommene Missverhältnis von Strafen für Gewaltdelikte einerseits und Vermögensdelikte andererseits zu beseitigen. Als Mitglied dieser Expertengruppe weiß ich, dass die dort getroffenen Entscheidungen wohlüberlegt waren und umfassend diskutiert wurden. Nun wird die Reform, noch bevor sie zur Wirkung kommen kann, infrage gestellt, indem plakativ „höhere Strafen bei Gewaltdelikten“gefordert werden.
Bei vielen schwerwiegenden Delikten reicht der Strafrahmen bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe. Das ermöglicht es den Gerichten, in ihrem Urteil die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und je nach Gegebenheiten auch strenge Strafen zu verhängen. Rechtliche Grundlage dafür sind ausdifferenzierte Bestimmungen über die Strafbemessung, in denen vor allem die Prävention – nicht aber Rache oder Vergeltung – Bedeutung hat. Zudem bietet das Gesetz die Möglichkeit, die Höchststrafe unter bestimmten Voraussetzungen um die Hälfte anzuheben. Die Praxis zeigt, dass die Gerichte in besonderen Fällen bis an diese Grenzen gehen.
Die nunmehr erhobene Forderung verlangt nach einer Anlassgesetzgebung, weil Einzelfälle vermeintlich nicht „gerecht“entschieden wurden. Geben wir uns nicht der Illusion hin, die Strafgerichte könnten das Gerechtigkeitsempfinden jedes Einzelnen zufriedenstellen. Misst man den „Erfolg“an diesem Kriterium, wird die Rechtsprechung stets scheitern. Denn die Mutter eines noch jungen Täters auf der einen Seite und das Opfer der Tat und dessen Angehörige auf der anderen Seite haben völlig andere Vorstellungen von „Gerechtigkeit“, wenn sie die vom Gericht festgesetzte Strafe bewerten.
Die geforderte Erhöhung der Mindeststrafen ist im Vergleich zu dieser Herausforderung, der sich die Justiz permanent stellen muss, ein geradezu banaler Angriff auf die Entscheidungsfreiheit der Gerichte.
„Geben wir uns nicht der Illusion hin, die Strafgerichte könnten das Gerechtigkeitsempfinden jedes Einzelnen zufriedenstellen.“