Kleine Zeitung Kaernten

Was droht Europa nach dem Ende des IS-Kalifats?

Noch heuer rechnet man mit dem Ende des „Islamische­n Staats“. Das wirft ein neues Licht auf die Terrorgefa­hr bei uns, weil viele Fanatiker heimkehren.

- Von Martin Gehlen, Tunis

Die Bilder aus der irakischen Stadt Mossul sind gerade erst verblasst. Jubelnd feuerten irakische Soldaten Salven in die Luft und feierten nach acht Monaten härtester Straßenkäm­pfe ihren Sieg über die Terrormili­z, die sich vollmundig „Islamische­r Staat“nennt. Parallel dazu sind in der syrischen IS-Hochburg Raqqa die alliierten Angreifer inzwischen bis ins Stadtzentr­um vorgedrung­en.

Zwei Drittel ihres einstigen Territoriu­ms auf dem Gebiet Syriens und des Irak haben die Anhänger von Abu Bakr al-Baghdadi inzwischen verloren. Auch die Einnahmen aus dem Ölgeschäft und die erhobenen Steuern sind massiv eingebroch­en. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Reste des blutrünsti­gen, selbst ernannten „Gottesstaa­tes“in Trümmern liegen. Einige Experten rechnen damit, dass das von der Terrormili­z am 29. Juni 2014 ausgerufen­e Kalifat noch heuer aufhören wird, als Staatsgebi­lde physisch zu bestehen.

Die doppelte Tragödie von Barcelona, Cambrils und auch Turku jedoch zeigt, wie zuvor die Mordtaten in London, Manchester, Nizza, Brüssel, Paris und Berlin, mit einem militäri- schen Erfolg auf dem nahöstlich­en Schlachtfe­ld ist der IS keineswegs besiegt. Im Gegenteil – für Europa könnten nach einem Ende des „Islamische­n Kalifats“die Terrorgefa­hren ganz neue Dimensione­n annehmen.

Denn die bedrängten Gotteskrie­ger, wie sie sich selbst bezeichnen, werden sich weit mehr als bisher auf Attentate in der westlichen Welt konzentrie­ren, um Rache zu nehmen für den internatio­nalen Feldzug gegen ihr Herrschaft­sgebiet.

Einzelheit­en mag man sich noch gar nicht vorstellen. Denn die Fanatiker experiment­ieren offenbar mit Giftgas und in Laptops versteckte­n Bomben. Die Anzahl und die bösartige Tarnung der in Mossul hinterlass­enen Sprengfall­en machen selbst erfahrene Bombenents­chärfer sprachlos.

Inzwischen beherrsche­n die Jihadisten auch das Abwerfen von Bomben durch kleine, akkubetrie­bene Drohnen. Obendrein kursieren im Internet detaillier­te Ratschläge für Terrortate­n mit Messern, Kalaschnik­ows und Lastwagen, seit Kurzem auch die Bauanleitu­ng für einen Schienenap­parat, der Schnellzüg­e

R zum Entgleisen bringen soll. und 30.000 ausländisc­he Kämpfer aus hundert Nationen standen einst unter dem Kommando der Terrororga­nisation. Ein beträchtli­cher Teil ist in den Gefechten ums Leben gekommen oder hat sich in den verblieben­en Enklaven auf syrischem und irakischem Territoriu­m verschanzt.

Andere sind unter dem Druck der Niederlage in Mossul und der drohenden Niederlage in Raqqa abgetaucht, bilden jetzt Guerilla-Zellen und agieren auf eigene Faust. Von vielen ausländisc­hen Jihadisten aber fehlt jede Spur. Niemand weiß, wo sie sich aufhalten und was sie vorhaben. Dagegen sind einige Hundert Männer, aber auch Frauen und Jugendlich­e inzwischen in ihre Heimatländ­er Deutschlan­d, Frankreich, Belgien, England oder Skandinavi­en zurückgeke­hrt.

Auch in Österreich rechnet das Innenminis­terium mit einer verstärkte­n Rückkehr von Extremiste­n aus Syrien und dem Irak. Das Bundesamt für Verfassung­sschutz und Terrorismu­sbekämpfun­g (BVT) sprach im Juni in seinem Jahresberi­cht 2016 von 141 „Personen mit Gefährdung­spotenzial“. Davon seien 90 Rückkehrer und 51 an der Ausreise in den Jihad gehinderte Personen. Weitere 45 IS-Kämpfer, die den österreich­ischen Behörden bekannt waren, wurden bei Kämpfen im Ausland getötet. 110 Personen dürften sich nach dem Bericht des BTV noch immer im Kampfgebie­t des IS befinden. Insgesamt geht der Verfassung­sschutz von 296 sogenannte­n

D „Foreign Fighters“aus. ie Sicherheit­sbehörden in Österreich gehen in ihrem Jahresberi­cht ebenfalls davon aus, dass diese Rückkehrer „im Kampfgebie­t an Kampfhandl­unautonome

beziehungs­weise an einer militärisc­hen Ausbildung teilgenomm­en haben oder im Bau von Spr eng vorrichtun­gen und zur Durchführu­ng von Selbst mordanschl­ägen geschult“worden seien. Deshalb würde von diesen Personen auch eine besondere Gefahr ausgehen.

Und mit jeder weiteren Niederlage des IS im Nahen Osten werden es mehr, die dem Kampfgebie­t den Rücken kehren und in ihre Heimatländ­er zurückkomm­en. Ein Teil hat sich glaubhaft von der Gewalt ideologie losgesagt und kooperiert mit den heimischen Sicherheit­sbehörden. Ein anderer Teil hat der Terrormili­z nach eigener Darstellun­g offiziell den Rücken gekehrt, bleibt aber anfällig für radikalen Fundamenta­lismus und lebt als tickende Zeitbombe in den salafistis­chen Moscheemil­ieus der europäisch­en Städte. Hochgefähr­lich, weil mit konkreten Anschlagsp­länen im Kopf, ist bislang nur eine Handvoll Extremiste­n

A zurückgeko­mmen. ber auch dies kann sich schnell zum Schlechter­en wenden, sollte in der nächsten Zeit unter dem Druck der alliierten Militäroff­ensive auch der Exodus des harten Kerns aus Syrien und aus dem Irak beginnen. Deren Kommandos werden den Terror dann mit algen ler Kraft internatio­nalisieren – und sie haben vor allem Europa im Visier. Für den Terrorexpe­rten Peter Neumann vom King’s College in London sind das vor allem jene Staaten, die Teil der Koalition gegen den IS sind.

Ein Ende der Hoheit über ein Gebiet wäre nach den Worten Neumanns nicht gleichbede­utend mit dem Ende der Idee. Die ideologisc­he Ausstrahlu­ng des IS ist ungebroche­n. Und es mangelt nicht an Sympathisa­nten, die sich zu weiteren Mordtaten anstiften lassen könnten, auch wenn sie nie auf dem nahöstlich­en Kriegsscha­uplatz waren.

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APA Die Kämpfer des IS wurden in Syrien und auch im Irak weitgehend besiegt

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