„Taxifahrende Politologen brauchen wir nicht“
Oft könne es für einen Lehrer auch ein Erfolg sein, wenn ein 15-jähriger Schüler nicht im Gefängnis lande, erzählt der ehemalige Unternehmensberater und „Teach for Austria“-Gründer Walter Emberger. Lehrer müssten sich vor allem auch als Coach sehen.
Sie haben vor Jahren die Initiative „Teach for Austria“gebildet, bei der unterschiedlichste Akademiker – Physiker, Hirnforscher, Afrikanisten – für zwei Jahre in einer Neuen Mittelschule unterrichten. Und Sie haben sich ein großes Ziel gesetzt. Sie wollen ein Österreich, in dem jedes Kind seine Fähigkeiten entfalten kann. Eine Utopie?
WALTER EMBERGER: Ich glaube nicht, dass das eine Utopie sein muss. Das Frauenwahlrecht wurde auch einmal für eine Utopie gehalten. Man muss hohe Ziele haben und ein Bild malen, das sich alle vorstellen können. Es ist ja eigenartig, dass man sich oft für dieses Ziel verteidigen muss. Die Frage müsste doch eigentlich lauten: Warum hat noch nicht jedes Kind die gleichen Chancen?
Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen, um an diesen bildungspolitischen Idealzustand heranzukommen?
EMBERGER: Die Realität ist, dass die einen gefördert werden, die anderen nicht. Zunächst müsste einmal der Normalzustand hergestellt werden. Dass jedes Kind mit 15 rechnen, schreiben, lesen kann. Das war übrigens auch mein Antrieb, Teach for Austria zu gründen.
Um jenen Kindern zu helfen, die nicht das Glück der Geburt haben und in eine fördernde Familie hineingeboren wurden?
EMBERGER: Ja, weil ein Drittel der Gesellschaft in Österreich abgehängt wird. Hier müsste die Schule ausgleichen, sie kann aber diese Ausgleichsfunktion oft nicht erfüllen, obwohl es viele willige Leute außerhalb und innerhalb des Systems gibt. Vor sechs Jahren war Österreich bei der Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich an neunter Stelle, heute sind wir auf den 26. Platz zurückgefallen. Wir müssen reagieren, nicht nur weil wir es den Kindern schuldig sind. Ich habe als Unternehmensberater und als Fachhochschulprofessor auch gesehen, dass Maturanten nicht mehr rechnen können.
Worauf führen Sie das zurück?
EMBERGER: Da ist ein Schlendrian in der Gesellschaft entstanden. Man müsste den jungen Leuten vermitteln, dass man sich anstrengen muss und dass das selbstverständlich ist.
Auf der anderen Seite gibt es die Klage, dass der Leistungsdruck immer mehr zunimmt.
EMBERGER: Aber nicht in den Schulen, in denen unsere Fellows, wie wir unsere Lehrer nennen, unterrichten. Da findet eine Polarisierung der Gesellschaft statt. In den Gymnasien wird oft enorm viel Druck von den Eltern ausgeübt. Da beschäftigt die vorwissenschaftliche Arbeit interessanterweise die Eltern oft mehr als die Kinder. Wir erleben in den Schulen, in denen unsere Lehrer tätig
sind, dass die Eltern oft ganz schwer erreichbar sind.
Lehrer klagen über Elternhäuser, in denen es kein einziges Buch gibt. Ist das der Grund, warum es Teach for Austria nur an Brennpunktschulen gibt?
EMBERGER: Wir nennen sie sozial belastete Schulen. In diesen Schulen ist es wichtig, weitere engagierte Leute von außen hineinzubringen.
Was können Physiker, Hirnforscher besser als andere Lehrer?
EMBERGER: Gar nichts können sie mehr, aber es sind Lehrer von außen, die dies aus Berufung und Leidenschaft für zwei Jahre und nicht für die nächsten 35 Jahre machen. Das System braucht weit mehr von solchen Leuten von außen, die mit anderen Lebenswelten in die Schule kommen. Es müsste auch noch vieles gemacht werden, um das Image des Lehrers zu heben.
Und wie geht es den Juristen, Betriebswirten in Klassen, in denen kein Kind Deutsch als Muttersprache hat?
EMBERGER: Es hängt sehr viel davon ab, wie man in den Wald hineinruft. Die Anforderungen sind aber mehr als vielfältig. Sie gehen auf den Eislaufplatz und kommen drauf, dass die Hälfte der Schüler nicht die Bänder der ausgeliehenen Schlittschuhe zubinden kann. Oder sie vereinbaren einen Zeitpunkt und kommen drauf, dass viele nicht
eine analoge Uhr lesen können. Wenn das Elternhaus all das nicht leistet, muss dies die Schule übernehmen. Dass ein Lehrer sich endlich auch als Coach verstehen muss, sollte viel stärker auch in der Ausbildung berücksichtigt werden. In Indien gehen die Fellows zwei Tage zu den Familien der Kinder, um zu wissen, wie die Realität der Kinder ausschaut.
Lehrer klagen, sie könnten nicht die Ausputzer der Gesellschaft sein.
EMBERGER: Wenn es aber die Lehrer nicht machen, macht es niemand. Es ist in vielen Schulen zu wenig, nur das Fach zu unterrichten. Wir arbeiten auch viel mit Betrieben zusammen, um den Kindern die Erkenntnis zu ermöglichen, was alles an Lehrberufen möglich ist, und um ihnen zu zeigen, warum sie Mathematik lernen sollen, was ihnen das bringt. Oder warum es wichtig ist, pünktlich zu sein, gut aufzutreten. Wir laden zum Beispiel einen Hotelmanager ein, damit er ihnen aus seiner Welt erzählt, welche Chancen ein Koch hat, oder der Gerichtspräsident erzählt aus seinem Berufsleben. Sie sehen dann: Ah, es bringt etwas, wenn ich mich anstrenge. Da geht es aber nicht darum, dass alle die Matura machen. Das wäre wirklich eine Utopie. Wir brauchen auch keine Gesellschaft mit taxifahrenden Politologieabsolventen, sondern Dachdecker, Köche,
Elektriker. Es kann auch schon ein Erfolg sein, wenn einer mit 15 nicht ins Gefängnis kommt, sondern eine weitere Ausbildung macht.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, eine neue Schule auf der grünen Wiese zu errichten, wie würde sie aussehen?
EMBERGER: Es wäre eine Schule von 8 bis 16 Uhr, in der die Hausaufgaben in der Schule gemacht werden, es täglich Sporteinheiten gibt. Der Grund, warum es oft in Klassen wild zugeht, die Kinder herumspringen, ist ja die fehlende Bewegung. Es wäre eine Schule, in der die besten Kräfte arbeiten würden und man kein Elternhaus braucht, das kompensiert, was in der Schule nicht gemacht wurde. Und ich würde die besten Lehrer an den schwierigsten Schulen einsetzen und sie besser bezahlen als andere.
Die Gesamtschule klammern Sie aus?
EMBERGER: Bildungsexperten haben nachgewiesen, dass 85 Prozent des Schulerfolges von der Lehrerpersönlichkeit abhängt. Es ist mir unverständlich, mit welcher Leidenschaft in Österreich über Strukturen diskutiert wird. Da geht so viel Energie hinein, statt dass man sie für die Frage verwendet, wie Schule so attraktiv gemacht werden kann, dass die Besten dort arbeiten wollen.