Was Gesellschaften stabil macht
Der ehemalige Kriegsreporter Sebastian Junger plädiert für mehr Gemeinschaft.
Gegen Ende 2015 wurde im Osten Kenias ein Bus von Kämpfern der Terrorgruppe al-Shabaab angehalten. Die Milizionäre verlangten von den muslimischen und christlichen Fahrgästen – vornehmlich Frauen –, sich in zwei Gruppen zu teilen, denn sie wollten die Christen töten. Doch die muslimischen Frauen weigerten sich. Sie erklärten den Terroristen, dass sie alle zu sterben bereit seien und es nicht zulassen würden, dass man die Christen zur Exekution aussonderte. Die Terrormiliz ließ letztlich alle gehen. Es ist eines der Beispiele, die Sebastian Junger in seinem Buch „Tribe“(Stamm) als Indiz dafür anführt, dass die Menschen, wenn sie in Gefahr sind, automatisch enger zusammenrücken. Das Empfindungsvermögen für Solidarität sei schließlich der Kern des Menschseins. Wie schon in seinem Bestseller „Der Sturm“, verfilmt mit George Clooney, über das Schiffsunglück der Andrea Gail, interessiert den ehemaligen Kriegsreporter das Gemeinschaftsgefühl und die daraus resultierende Stärke von Menschen in Krisensituationen. Junger war als Berichterstatter in Afghanistan und Sarajevo, er hat die Riten der Irokesen und Cherokee studiert und sich mit Psychiatern über das Wesen Mensch unterhalten. Der 54-jährige New Yorker kommt auf drei Dinge, die der Mensch braucht, um zufrieden zu sein: Er muss das Gefühl haben, seine Arbeit kompetent verrichten zu können. Sein Leben muss ihm authentisch erscheinen, und er braucht das Empfinden, mit den Menschen in Verbindung zu stehen. Diese intrinsischen Werte würden schwerer wiegen als extrinsische wie Schönheit, Geld oder Status. Doch die moderne Gesellschaft lebe nicht danach, infolgedessen würden die Probleme mit der geistigen Gesundheit trotz wachsenden Wohlstands nicht ab-, sondern zunehmen. Sich um andere zu kümmern, schreibt Junger, sei nicht Altruismus, sondern ein tief reichender Selbstzweck in Gesellschaften, die stabil bleiben wollen. Dem Vorwurf, „Tribe“lasse etwas ratlos zurück, konterte Junger in einem Interview: „Meine Rolle ist es, Dinge zu beschreiben, aber nicht, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen.“