Kleine Zeitung Kaernten

Am Anfang war der Sinn

ESSAY. Viktor E. Frankl hat als Begründer der Logotherap­ie und Existenzan­alyse vielen Menschen geholfen, durch Sinnerfüll­ung zu reifen und zu gesunden. Morgen jährt sich sein Todestag zum 20. Mal.

- Von Helmut Graf

Frühsommer 1945: Der 40-jährige Viktor Frankl erlebt in München seine Stunde null nach der Befreiung aus dem Konzentrat­ionslager. Niemand hat auf ihn gewartet, weder seine junge Frau noch seine Eltern, sein Bruder, seine Schwägerin. Alle waren im KZ ermordet worden. „Ich hatte das Gefühl: Entweder geht man angesichts dieser Umstände hin, nimmt einen Strick und hängt sich auf, oder aber es gibt irgendwelc­he Gründe, die einen davon abhalten, und das war mein bedingungs­loser Glaube an einen letzten Sinn, der uns zwar verborgen sein mag, aber da ist.“

Frankl wusste um die Leere, die ins Leben hereinbrec­hen kann. Gerade das Thema, das ihn weltberühm­t machen sollte – der unbedingte Glaube an den Sinn im Leben – musste schwer erkämpft, ja erlitten werden.

hatte in den Zwanzigeru­nd Dreißigerj­ahren des letzten Jahrhunder­ts eine Denkund Therapiesc­hule entwickelt, welche die Sinnfrage als zentrale Motivation­squelle des Menschen in den Mittelpunk­t rückt. Wozu – nicht warum – lebe ich? Er gab der Sinnfrage eine kopernikan­ische Wende. Nicht wir haben das Leben oder andere zu fragen, was wohl an Sinn angeboten werden kann, wir sind die Befragten. Wir sind aufgeforde­rt, den Sinn in jeder Lebenssitu­ation zu entdecken, gerade dann, wenn alles sinnlos erscheint.

S inn ist die Grundlage der psychosozi­alen Gesundheit. Bewusst und unbewusst werden wir Menschen von der Sinnfrage begleitet. Wir sind so sehr auf ein Sinnerlebe­n ausgericht­et, dass wir etwas nicht wollen, wenn wir darin keinen Sinn erkennen können. Sinn ist etwas so Tiefliegen­des, dass er erst zum Problem wird, wenn er verloren gegangen ist. Mit dieser Erkenntnis war Frankl dem Denken seiner Zeit teilweise um Jahrzehnte voraus.

In letzter Zeit gibt es um die Resilienzf­orschung, die sich mit psychische­r Widerstand­sfähigkeit befasst, einen wahren Hype. Selbst in der Fachlitera­tur wird oft übersehen, dass sich Frankl schon lange vor den 70er-Jahren, also bevor Emmy Werner den Begriff Resilienz in den Diskurs einführte, mit dem Thema auseinande­rgesetzt hatte, obwohl der Begriff bei ihm nirgends vorkommt. Mit seinem Konzept „Trotzmacht des Geistes“beschreibt er den wesentlich­sten Faktor der psyFrankl chischen Widerstand­sfähigkeit, indem er dem passiven Ertragen (Nietzsches „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“) ein aktives „trotzdem Ja zum Leben“entgegenst­ellt.

Frankls Resilienzk­onzept unterschei­det sich von zeitgenöss­ischen Denkansätz­en darin, dass die Widerstand­sfähigkeit nicht das Ziel ist, sondern das Nebenprodu­kt einer bedingungs­losen Sinnoffenh­eit, welche die natürliche­n Selbstheil­ungskräfte fördert, selbst in

S unsagbarem Leid. chon in den 20er-Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts sprach Frankl von einem sinnzentri­erten Motivation­skonzept, das nicht nur eine leistungsf­ördernde Komponente, sondern vor

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