Lob der Demut
Michael Köhlmeier erzählt in seinem jüngsten Buch vom Leben und Sterben des heiligen Antonius von Padua. Hier erklärt der Vorarlberger Schriftsteller, was ihn an der Gestalt gefesselt hat.
Es ist ungewöhnlich, dass ein Schriftsteller sich einen katholischen Heiligen zum literarischen Gegenstand macht.
MICHAEL KÖHLMEIER: Ist es das?
Franz Werfel hat über die heilige Bernadette geschrieben. Das ist aber schon lange her.
Vielleicht schreibt man ja nur über Heilige, wenn man ein Gelübde abgelegt hat. Das hat der Werfel damals ja auch.
Ja, als er auf der Flucht vor den Nationalsozialisten war. Und Sie? Warum haben Sie über den heiligen Antonius geschrieben?
Es gab da kein spezielles katholisches Wiedererweckungserlebnis. Mich hat die Figur gefesselt. Antonius von Padua ist eine der großen Gestalten des Abendlandes. Seine Geschichte ist Teil der europäischen Heiligenlegenden. Sie ist christliche Mythologie. Man würde sich einschränken, wenn alle wunderbaren Geschichten, die es da gibt, aus Antiklerikalismus nicht infrage kommen. Ich habe Kollegen, die vor Angst, dass man sie für Kerzelschlecker hält, das Christentum als Quelle ausblenden. Das ist absurd, dass man auf den Hauptstrom unserer Geschichte verzichtet!
Was genau an Antonius von Padua hat Sie gefesselt?
Antonius war ein Hochintellektueller. Franziskus, sein Ordensgründer, der wahrlich kein Simpel war, hat ihn ermahnt, er solle nicht so viel lesen, sondern das Herz sprechen lassen. Zugleich wurde Antonius zu einem der populärsten Heiligen, zu il San-
to, zu dem Heiligen schlechthin. Diesen Widerspruch muss man sich vor Augen halten. Dass der klügste Mann seiner Zeit der Heilige der naiven kindlichen Seelen wird, den man anruft, wenn man seine Brille verloren hat. Das hätte Antonius, so wie er mir beim Schreiben erschienen ist, sicherlich gefreut. Weil er gesagt hätte: Endlich ist der Hochmut in mir besiegt. Oder er hätte sich geärgert, weil er sich verkannt fühlte.
Hat Sie der Konflikt zwischen Demut und Hochmut, der sein Leben lang an Antonius zerrte, so brennend interessiert, weil Sie ihn selber empfinden?
Jedes Nachdenken ist im Grunde ein Sich-erheben-Über. Man kann diese Spannung entkräften, indem man – wie es heute geschieht – den Begriff Demut aus dem Sprachgebrauch tilgt. Aber für einen Reflektierenden geht das nicht: Ein Intellektueller sagt sich, allein die Tatsache, dass du reflektierst, ist hochmütig. Mich fasziniert von jeher alle Form der Entstehung von Mythen. Wenn jemand in die Basilika des heiligen Antonius in Padua geht und mit Inbrunst zu seiner mumifizierten Zunge betet, die da erhalten ist, so ist das ein interessanter Vorgang. Gleichzeitig habe ich den Widerspruch des Antonius in mir, weil ich mir gönnerhaft vorkomme und mir sage: Ich selber tue das nicht. Ich bete nicht zu dieser Zunge. Aber wer bin ich, dass ich mich darüber erhebe?
Wie ist Antonius mit dieser Spannung umgegangen?
Antonius war bei den Augustiner Chorherren, ehe er den Minderbrüdern des Franziskus beitrat. Er wollte von seinen Mitbrüdern geliebt werden und hat sich vor ihnen gedemütigt. Wenn sie sagten: „Geh in dein Zimmer und sieh nach, ob du da bist“, dann tat er das. Er ging hinauf, sah nach, kehrte zurück und sagte: „Nein, ich war nicht oben.“Das über sich ergehen zu lassen, ohne zu sagen: „Lasst den Blödsinn“, setzte wieder so einen Hochmut in der Demut voraus, dass Antonius gemerkt hat, er kommt da nicht heraus.
Hat er deshalb die Nähe zu Franziskus gesucht?
Antonius konnte sich noch so klein vor seinen Mitbrüdern machen. Die Gabe, die ihm geschenkt worden war, der Intellekt, machte ihn nicht beliebt. Im Gegenteil. Sie bewirkte, dass die Leute sich vor ihm genierten, ja dass sie sich fürchteten. Als ich an der Universität war, habe ich als Tutor Erst- und Zweitsemestrige betreut. Da war ein Geschwisterpaar, die Kinder eines Briefträgers. Er war fünfzehn, sie sechzehn Jahre alt. Die beiden war so blitzgescheit, dass sie im Gymnasium mehrere Schulklassen übersprungen und vom Ministerium eine Sondergenehmigung zum Studieren hatten. Der Bub hat Politikwissenschaften, Germanistik, Mathematik und Physik studiert, alles gleichzeitig, und war fast schon fertig mit seinen 15. Bei einem Wochenendseminar hab ich ihm an einem Nachmittag Schach beigebracht. Am Abend hat er gegen jeden gewonnen, am nächsten Tag hat er Simultanpartien gespielt. Ich hab den Buben dann aus den Augen verloren, aber mir sagen lassen, dass er die Matura gemacht, danach aber alle Studien abgebrochen und eine Tischlerlehre begonnen hat. Nicht, weil er Demut üben wollte. Sondern weil er wie jeder andere Fünfzehnjährige sein wollte und gewusst hat, dass seine Gabe ihn von den anderen isoliert. Ich hab oft an den Bub denken müssen, als ich am Antonius geschrieben habe.
Sie sagen, die Demut habe keinen Platz mehr in unseren heutigen Lebensentwürfen. Woran machen Sie Ihre Diagnose fest?
Wenn heute von Demut die Rede ist, dann nur in Zusammenhang mit der Umwelt. Das finde ich gedankenarm, ja jämmerlich. Was soll das überhaupt sein, Demut vor der Natur? Unser Verhältnis zur Natur kann nicht Demut sein. Demut ist ein zwischenmenschliches Verhalten. Wann in den letzten zehn Jahren haben Sie jemanden in positiver Weise das Wort Demut nennen hören?
Wie weit Demut gehen kann, zeigen Sie in Ihrem Buch über den heiligen Antonius am Beispiel des Hiob. Seine Figur fesselt Sie schon lange. Warum?
Die Geschichte von Hiob ist der große Skandal der Bibel. Es ist eines Gottes nicht würdig, mit Satan eine Wette über einen frommen Menschen abzuschließen und ihm alles zu nehmen, was er hat. Das ist in unserer menschlichen Vorstellung so niederträchtig, dass man Gott am Ende Hiob nur anschnauzen lassen kann, er habe viel Größeres zu lenken, als dass er auf das rationale Denken der Menschen Rücksicht nehmen könne. Deshalb solle Hiob gefälligst den Mund halten. Und Hiob tut das. Er schweigt und neigt sich vor Gott. Die Frage, die hier aufgeworfen wird, lautet: Wie kann Gott das Böse zulassen? Dieser Frage kann man letztlich nur mit Demut begegnen, und zwar nur mit absoluter Demut, die keinen anderen Gedanken zulässt.