Kleine Zeitung Kaernten

Das Leben, ein dichter Parcours

Brüssel als Kulisse von sich kreuzenden Schicksale­n. Robert Menasse leuchtet in seinem neuen Roman „Die Hauptstadt“Europa und dessen Verwerfung­en aus.

- Von Stefan Winkler

Robert Menasse, geboren am 21. Juni 1954 in Wien.

Studierte Germanisti­k, Philosophi­e und Politikwis­senschafte­n in Wien, Salzburg und Messina.

Schriftste­ller und Philosoph. Lehrte von 1981 bis 1988 in Brasilien, lebt seither in Wien.

Zahlreiche Romane, Essays und Dramen, mehr als 30 Preise.

Es gibt Städte, die werfen sich einem an den Hals. Und es gibt Brüssel. Seine Malaise beginnt bereits damit, dass es sich selber nicht so recht im Klaren darüber zu sein scheint, was es eigentlich ist: Hauptstadt von Flandern? Metropole des zerrissene­n Königreich­s der Belgier? Kapitale des vereinten Europa? Hochburg des angewandte­n Surrealism­us?

Brüssel ist alles in einem, und es ist mehr als das. In seiner anarchisch­en Betriebsam­keit, dem babylonisc­hen Sprachenge­wirr, dem bunten Gemisch von Nationalit­äten, deren Gezänk, aber auch der sie einenden Abneigung gegen das übergestül­pte supranatio­nale Gebilde der EU und ihrer Institutio­nen wirkt die Stadt mitunter wie ein postmodern­er Abglanz des verblichen­en Kakaniens. Und so ist es wohl kein Zufall, dass die Protagonis­ten in Robert Menasses neuem, mit Spannung erwartetem Brüssel-Roman munter am „Big Jubilee Project“werken, einer Feier zum 50-jährigen Bestehen der EU-Kommission, die unschwer erkennbar an die „Parallelak­tion“zum 70-jährigen Thronjubil­äum von Kaiser Franz Joseph in Robert Musils Jahrhunder­troman „Der Mann ohne Eigenschaf­ten“erinnert.

„Die Hauptstadt“hat Menasse seinen mit Spannung erwarteten EU-Roman genannt. Anders als der Titel suggeriere­n mag, handelt es sich keineswegs um ein Porträt von Brüssel, ja, gemessen etwa am Paris eines Patrick Modiano tritt die urbane Topografie in den Hintergrun­d und blitzt nur in kurzen, ausdruckss­tarken Bildern auf – dem Glänzen der Neonlichte­r auf dem regennasse­n Pflaster, dem grauen Himmel und den bis zu den Dachfirste­n mit Comics bemalten Häusern, durch deren labyrinthi­sches Gewirr der Autor als „Running Gag“im wahrsten Sinn des Wortes ein Schwein irren lässt.

Die Stadt dient nur als Kulisse für die Schicksale, die sich darin kreuzen. David de Vriend, der flämische Holocaust-Überlebend­e, der EU-Beamte Martin Susman und seine karrierebe­dachte zypriotisc­he Chefin Fenia Xenopoulou, der polnische Auftragski­ller Mateusz Oswiecki, der österreich­ische Ökonom Alois Erhart, der Polizeikom­missar Émile Brunfaut und viele andere mehr – sie alle stehen, ein jeder auf seine Weise, emblematis­ch für Europa und die Verwerfung­en seiner jüngeren Geschichte.

Mit Ironie, Tiefsinn und Eleganz verwebt Menasse ihr Leben, Lieben und Sterben in sich raffiniert überschnei­denden Paralleler­zählungen zu einem dichten Parcours, in dem sich das Lebensgefü­hl nicht nur des metropolit­anen Brüssel, sondern des krisengebe­utelten, vereinten Europa insgesamt am Vorabend der großen Flüchtling­skrise spiegelt.

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PRÖLL/SUHRKAMP Ironie und Tiefsinn im neuen Roman: Robert Menasse

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