Kleine Zeitung Kaernten

Kettensäge und Krampen

Quickleben­dige Untote: Der steirische herbst holt Elfriede Jelineks Mammutroma­n „Die Kinder der Toten“ins Mürztal zurück. Eine Spurensuch­e in Wanderschu­hen und mit Leselampe.

- Von Julia Schafferho­fer

Die Herbstsonn­e tätschelt die schroffen Bergrücken und hat noch Kraft übrig für die vielen verlassene­n Gräben im Miaztål, wie die Einheimisc­hen ihre Gegend nennen. Das Idyll trügt, wie meistens.

Die Landschaft scheint untot. So untot wie die Figuren in Elfriede Jelineks zwischen Neuberg an der Mürz und Mariazell angesiedel­tem Gespenster­roman „Die Kinder der Toten“von 1995. Anziehend idyllische Panoramen vor abstoßend aufgelasse­ner Infrastruk­tur. Es ist, als wären der Landschaft die Erinnerung­en eingedrosc­hen worden. Jene an die kaiserlich glorreiche­n Zeiten, jene an die florierend­e Forstwirts­chaft, aber auch jene an die längst eingestell­te Bahnstreck­e und den Wegzug der Jungen.

Ausgestorb­enheit, die: Der Begriff bekommt hier nun eine neue Bedeutung. Das Untote wird zelebriert: Menschen mit blutigen Wangen und zerrupften Frisuren fallen in Dirndln oder Jankern in längst aufgelasse­ne Gasthäuser ein. Ein Auto liegt – wie von Geisterhan­d umgekippt – dampfend in der Wiese neben der Bundesstra­ße, eine Frau kriecht heraus.

Alles Untote. Aber alles nur gespielt: Wanderwege, Straßen, Kuhweiden, Gaststuben oder Waldlichtu­ngen mutieren zum Filmset. Pavol Liska („Wir fühlen uns selber wie Aliens hier“) und Kelly Copper vom Nature Theatre of Oklahoma drehen, sehr frei nach den Motiven des Romans mit der teuflische­n Seitenzahl 666, einen Stummfilm auf Super 8. Und die Einheimisc­hen spielen auch mit; verborgen Traktoren, Kettensäge­n oder Kühe. Die starken Arme der freiwillig­en Feuerwehr schubsen ein Auto für eine Unfallszen­e um, als wäre es ein Spielzeug. Und löschen es nach der Explosion wieder.

Der steirische herbst besetzt die Gegend rund um Kapellen und feiert so den 70. Geburtstag der berühmtest­en Person der Region: Elfriede Jelinek. Und bringt ihr Mammutwerk, das so viele Menschen provoziert, obwohl es so wenige kennen, zurück an den Ort, an dem es wurzelt. Gespenster­haft und abrechnung­sfreudig kompostier­t Jelinek darin rund um einen ExB-Kader-Skifahrer und FP-Poli-

eine Sekretärin und eine Philosophi­estudentin all die untoten Klischees von Österreich – vom Nationalsp­ort bis zur NS-Verdrängun­g, von Heimat bis zum Fremdenver­kehr, vom Idyll bis zur Naturkatas­trophe. Der herbst verortet den Roman neu. Lustvoll und mit Dutzenden Veranstalt­ungen.

In einem hinreißend­en alten Bahnwaggon wird vor dem VAZ in Kapellen – von freitags 12 bis sonntags 12 Uhr – der Roman in 15-minütigen Slots laut vorgele- Was für eine Erfahrung, sich Ausschnitt­e dieses unverwüstb­aren, bild- und humorgewal­tigen Sprachkolo­sses einzuverle­iben!

Jelinek kennt diese Landschaft und das ruppig morbide Leben seit ihrer Kindheit. Viele ihrer Sommer hat sie im Haus ihrer Großeltern in der Krampen – der Name ist keine literarisc­he Erfindung – verbracht. „Dort drüben steht das Haus“, sagt Renate Dobrovolny und zeigt auf dem Rundwander­weg Tirol in Richtung des Gebäudes. „3 Stuntiker, den im Naturtheat­er“heißt die Tour, bei der die Naturführe­rin zu Schauplätz­en des Romans lockt. Etwa zur fiktiven Pension Alpenrose. Die Truppe steht vor jenem Gasthaus, das bis Ende der 70er ein beliebtes Ausflugszi­el war. Nun steht es schon lange leer. Mit Nebengebäu­de und 17.000 Quadratmet­er Grund wäre es für 690.000 Euro zu haben. „Vieles im Roman hat Jelinek in den Gasthäuser­n bestimmt so erlebt“, sagt Dobrovolny. Daneben erfährt man von ihr herrliche Anekdoten über die Hintertür der Präsidente­nvilla in Mürzsteg, die Saufexzess­e der Holzknecht­e, das tatsächlic­he Horrordram­a der Försterbub­en. Der Büchereile­iter Erwin Holzer, ein Mitwandere­r, erinnert sich an den Roman als Resen. galhüter. Und immer dann, wenn das Idyll einen kurz einlullt, zieht, wie bestellt, ein einziges grimmiges Wölkchen am Himmel auf oder erkennt man, dass die Bilderbuch-Lichtung von einem Meer hochgiftig­er Herbstzeit­losen gesäumt ist. Schön schaurig – ohne oder.

„Dieses Land schöpft sich mit Leidenscha­ft aus und druckt sich auf Prospekte“, heißt es in „Die Kinder der Toten“. Ein Poster mit dem Zitat hängt in Kapellen. 25 weitere schmücken Hauswände und Zäune. Mit Genehmigun­g von Jelinek und auf Wunsch der Besitzer. Vor 22 Jahren wäre das undenkbar gewesen. Wie auch das: „Ich bin stolz auf das Projekt“, sagt Bürgermeis­ter Peter Tautscher bei der Eröffnung gestern, bei der sich Politiker, Trachtentr­äger, Kultur-Schickeria und Einheimisc­he wunderbar mischten.

Mehr noch: Am 14. Oktober, einen Tag vor der Nationalra­tswahl, marschiere­n die Untoten bei einem großen öffentlich­en Dreh hier auf. „Es geht um etwas bei diesem Projekt“, sagt einer der Beteiligte­n nachts, als die Herbstsonn­e schon längst verschwund­en ist. Nicht nur dort.

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DITZ FEJER, JS (3)
 ??  ?? Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“neu verorten: mit öffentlich­em Filmdreh (links), Marathon-Lesung (oben) und Touren zu den Schauplätz­en mit Renate Dobrovolny (rechts)
Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“neu verorten: mit öffentlich­em Filmdreh (links), Marathon-Lesung (oben) und Touren zu den Schauplätz­en mit Renate Dobrovolny (rechts)
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25 Zitate aus „Die Kinder der Toten“sind im Mürztal plakatiert
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