Die Ohren machen Augen
Radiosender Ö 1 feiert seine ersten 50 Jahre. Mit neuer Senderkennung und neuen Signations. Über 630.000 Menschen schalten ihn zumindest einmal am Tag ein.
Während anderswo der Oktoberrevolution gedacht wird, ruft Ö 1 die „Oktober-Evolution“aus. Und die besteht im Wesentlichen darin, dass dieser ORF-Informationsund Kultursender mit heutigem Tag flächendeckend ein von Christian Muthspiel neues, maßgeschneidertes Kleid angezogen hat und mit viel Trara das 50-jährige Bestehen feiert. Im Wiener Funkhaus, der Zentrale dieser radiophonen Institution, wird festgeredet (Robert Menasse) und konzertiert. Und das alles auch übertragen.
Um 11.03 Uhr geht’s mit dem „Jubiläumskonzert: 50 Jahre Ö 1“los. Cornelius Meister dirigiert das Radio-Symphonieorchester. Neben Beethovens „Eroica“steht Friedrich Cerhas zu seinem 90. Geburtstag im Vorjahr bei den Salzburger Festspielen uraufgeführtes Orchesterstück „Die blassblaue Vision“auf dem Programm.
Cerha ist untrennbar mit meiner Ö-1-Sozialisation verbunden. 1972, in dem Jahr, in dem man beim Plakat des steirischen herbsts nicht wusste, ob sich der Mann die Hose hinaufzieht oder in Bälde fallen lässt, gab uns Gymnasiasten in Judenburg der Musikprofessor Wolfgang W. einen Tipp: Wir sollten uns eine Übertragung vom „musikprotokoll“anhören. Friedrich Cerha dirigiert seine eigene Komposition „Spiegel“.
Als von Ö 3 und den simpel gestrickten C-Dur-Dreiklängen auf Ö-Regional musikalisch vorbelasteter Schüler saß ich in meinem Zimmer vor dem Radioapparat und verstand nur Bahnhof. Nach der nächsten Musikstunde fragte ich den Professor, den ich trotz postpubertärer Anwandlungen für einen seriösen Menschen hielt, was er mir da zugemutet hat. Und er meinte, ich solle meine „Ohrwaschln aufsperren“und etwas zulassen. Es folgte ein Privatissimum, letztendlich mit
der Erkenntnis, dass Kunstrezeption Voraussetzungen hat.
Zu dieser Zeit war Ö 1 ein verschnarchter Sender, der mit klassischer Musik, Opernübertragungen, Schulfunksendungen und stinkfaden Hörspielen nervte. Ein Graus für (fast alle) junge Menschen. Nennenswerte zeitgenössische Literatur gab’s in Ö 3 in der „Musikbox“, aber nicht im Kultursender. Dort dominierte konservativer Geschmack. Friederike Mayröcker und Ernst Jandl produzierten ihr Hörspiel „Fünf Mann Menschen“, für das sie den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden bekamen, beim deutschen Südwestfunk, in Ö 1 hatten sie Auftrittsverbot.
In meinen studentischen Tagen folgte ein Hörerlebnis der besonderen Art. Per Zufall hörte ich „Darf ich Sie im Namen des österreichischen Rundfunks um eine kleine Wortspende bitten?“. Ein Sammelsurium von Sprechblasen, eine herrliche Parodie auf Sprechdurchfall und andere wichtigtuerische Idiotien. Einfach grandios. Mit Beiträgen von „kleinen Leuten“auf der Straße, aber auch Promis wie dem damaligen Unterrichtsund Kulturminister Fred Sinowatz. Arrangiert von Alfred Treiber und Co, die mich Jahre später mit der am Samstagvormittag institutionalisierten Reihe „Hörbilder“zum Fan machten.
Apropos Fan: Noch immer habe ich Bert Breits Kennmelodie von Axel Cortis „Schalldämpfer“im Ohr, der bis zu seinem frühen Tod Ende 1993 meine Sonntage strukturierte. Ein Radiosolist war auch Hugo Kirnbauer. Bis zur „Zwangspensionierung“1997 gestaltete er die „Technische Rundschau“, in der er mit eher blecherner Stimme Neues aus der Welt der Technik mit dem Spezialgebiet Weltraum referierte. Radio der Steinzeit – aber dennoch sympathisch und unterhaltsam.
Ö 1 führte mir auch anschaulich vor, was Binnenpluralismus bedeutet: Während in den Informationssendungen über Exportaufträge, Sicherung von Arbeitsplätzen die Rede ist, wird in der Religionssendung beim Interview mit Bischof Erwin Kräutler klar, worin der Haken beim Amazonas-Großauftrag an die Maschinenfabrik Andritz besteht. Dass Ö 1 für „Im Gespräch“55 Minuten Zeit hat, ist den Radioleuten hoch anzurechnen. Merci vielmals!