Der ganz normale digitale Wahnsinn
Clemens J. Setz schuf mit seinem Bühnen-Erstling „Vereinte Nationen“ein beklemmendes Lehrstück über den bereitwilligen Seelenverkauf im Internet.
ZweiHeimspiele zum Saisonauftakt. Auf den Berserker Werner Schwab folgt der listige Fallensteller Clemens J. Setz mit seinem Bühnenerstling „Vereinte Nationen“. Die Textvorlage avisiert ein frostiges Kammerspiel über den bereitwilligen Seelenverkauf im Internet und das sonderbare Bedürfnis, sein Innerstes zum Äußerln zu führen. Befeuert durch die Verlockung, sich damit auch noch dumm und dämlich zu verdienen, ohne Rücksicht auf charakterliche Verluste.
Ein Ehepaar filmt die störrische Tochter, die, wie ein Struwwelpeter reloaded, nicht nur das reichlich ungenießbare Essen verweigert. All das Aufbegehren wird in VideoClips dokumentiert und gerät zum großen Pseudo-RealityHit. Ein Produzentenpärchen, das durchaus auch über Erfahrungen mit der digitalen Porno-Industrie verfügen könnte, forciert die Skrupellosigkeit. Familiäre Entfremdung und Isolation paart sich mit dem Dasein in der Parallelwelt. Ein aktuelles Sitten- und Gesellschaftsbild, von Setz gewohnt vielschichtig ins Licht oder aber Dunkel gerückt. Regisseur Mathias Schönsee verzichtet in seiner an Video-Einspielung reichen Inszenierung auf jegliches Handlungsgerüst. Er liefert, thematisch irgendwie ja durchaus passend, Short-Cuts, die mitunter wirken wie gesprochene Tweeds. Vielleicht ist das ja die Geburtsstunde des TwitterTheaters, dem es diesfalls an der nötigen Kälte mangelt. Nicht nur die Suppe ist lauwarm. Ausgelöffelt wird sie überzeugend von Mathias Lodd und Evamaria Salcher (Ehepaar), Tamara Semzov (Tochter), Franz Solar und Vera Bommer (ProduzentenPaar). Eine ausbaufähige Versuchsanordung mit einer Lektion: Der Apple fällt nicht weit vom Stamm. Werner Krause
Vereinte Nationen. Von Clemens J. Setz. Österreichische Erstaufführung. Schauspielhaus Graz, Haus 2. 10., 19., 24. 10. Beginn: 20 Uhr (bis ca. 21.30).
Karten: Tel. (0 31 6) 80 00