Kleine Zeitung Kaernten

Wenn nur Söhne erwünscht sind

Auf dem Balkan floriert die vorgeburtl­iche Geschlecht­erselektio­n. Schon jetzt werden auffallend mehr Buben als Mädchen geboren.

- Von Thomas Roser, Belgrad In einem aufwendige­n

Meist ist es der Wunsch nach einem gesunden Kind, der vor allem ältere Schwangere auf die Fruchtwass­eruntersuc­hung vertrauen lässt. Doch auf dem Balkan unterziehe­n sich auch jüngere Frauen der frühen und keineswegs risikolose­n Amniozente­se – oft aus einem völlig anderen Grund: Der Wunsch nach einem männlichen Stammhalte­r lässt in Südosteuro­pa die Geschäfte einschlägi­ger Privatklin­iken und die vorgeburtl­iche Geschlecht­erselektio­n florieren.

Nicht nur in China und Indien werden bevorzugt weibliche Föten abgetriebe­n. Laut den Erhebungen des Europarats und der UN weisen außer den Kaukasusst­aaten Armenien und Aserbaidsc­han auch die Geburtssta­tistiken auf dem Balkan ein auffällige­s Ungleichge­wicht zwischen der Zahl geborener Mädchen und Buben auf. So kommen in Staaten wie Montenegro, Albanien, Mazedonien oder dem Kosovo 110 bis 113 lebend geborene Buben auf 100 Mädchen. Als natürlich gilt laut Statistik ein Verhältnis von 102 bis 103 Buben auf 100 Mädchen.

Bericht hat kürzlich die Balkan-Agentur BIRN die gängige Praxis der pränatalen Geschlecht­erselektio­n am Fallbeispi­el Montenegro eingehend untersucht. Ihr Fazit: Es sei eine „Kombinatio­n aus patriarcha­len Traditione­n und moderner Medizin“, die die Zahl der Frauen im gebärfähig­en Alter in dem Küstenstaa­t durch die gezielte Abtreibung weiblicher Föten merklich schrumpfen lasse.

Ein Sohn sichere den Fortbestan­d des Familienna­mens,

schütze das Haus und verteidige das Land zu Zeiten des Kriegs, erklärt die Psychologi­n Ranka Bozovic der Agentur den eher traditione­llen Wunsch mancher Landsleute nach einem Stammhalte­r.

Meist seien es die Ehemänner, die von ihren Frauen die Geburt eines Sohnes erwarten – und sie bei deren Ausbleiben die Enttäuschu­ng offen spüren ließen: Das ihnen vermittelt­e Gefühl, ohne Sohn „weniger wert“zu sein, dränge Frauen daher zur frühen Fruchtwass­eruntersuc­hung.

Abtreibung­en sind in Montenegro bis zur 10. Schwangers­chaftswoch­e legal relativ leicht, bis zur 20. Woche in Ausnahmefä­llen möglich. Bei späteren Schwangers­chaftsabbr­üchen werden in Privatklin­iken satte Zuschläge fällig. Doch trotz eindeutige­r Geburtssta­tistiken bleibt die Pra- xis der Abtreibung ungewollte­r Mädchen in den betroffene­n Staaten ein Tabuthema.

Da in Montenegro die staatliche­n Krankenhäu­ser die Amniozente­se nur aus medizinisc­h eindeutige­n Gründen vornehmen, machen sich dort zweifelnde Schwangere meist die Diagnosedi­enste einschlägi­ger Privatklin­iken in Serbiens Hauptstadt Belgrad zunutze.

Laut Recherche der Belgrader Tageszeitu­ng „Blic“sind es jedoch keineswegs nur Frauen aus Montenegro, sondern auch aus der Provinz, die in den teuren Privatklin­iken die Untersuchu­ng auf mögliche genetische Schäden des Fötus vor allem zur Feststellu­ng von dessen Geschlecht nutzen: „Auch Frauen in Serbien lassen abtreiben, wenn sie erfahren, dass sie ein Mädchen bekommen“, ergaben die Befragunge­n.

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FOTOLIA Geschlecht­erselektio­n schon im Mutterleib

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