Wenn nur Söhne erwünscht sind
Auf dem Balkan floriert die vorgeburtliche Geschlechterselektion. Schon jetzt werden auffallend mehr Buben als Mädchen geboren.
Meist ist es der Wunsch nach einem gesunden Kind, der vor allem ältere Schwangere auf die Fruchtwasseruntersuchung vertrauen lässt. Doch auf dem Balkan unterziehen sich auch jüngere Frauen der frühen und keineswegs risikolosen Amniozentese – oft aus einem völlig anderen Grund: Der Wunsch nach einem männlichen Stammhalter lässt in Südosteuropa die Geschäfte einschlägiger Privatkliniken und die vorgeburtliche Geschlechterselektion florieren.
Nicht nur in China und Indien werden bevorzugt weibliche Föten abgetrieben. Laut den Erhebungen des Europarats und der UN weisen außer den Kaukasusstaaten Armenien und Aserbaidschan auch die Geburtsstatistiken auf dem Balkan ein auffälliges Ungleichgewicht zwischen der Zahl geborener Mädchen und Buben auf. So kommen in Staaten wie Montenegro, Albanien, Mazedonien oder dem Kosovo 110 bis 113 lebend geborene Buben auf 100 Mädchen. Als natürlich gilt laut Statistik ein Verhältnis von 102 bis 103 Buben auf 100 Mädchen.
Bericht hat kürzlich die Balkan-Agentur BIRN die gängige Praxis der pränatalen Geschlechterselektion am Fallbeispiel Montenegro eingehend untersucht. Ihr Fazit: Es sei eine „Kombination aus patriarchalen Traditionen und moderner Medizin“, die die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter in dem Küstenstaat durch die gezielte Abtreibung weiblicher Föten merklich schrumpfen lasse.
Ein Sohn sichere den Fortbestand des Familiennamens,
schütze das Haus und verteidige das Land zu Zeiten des Kriegs, erklärt die Psychologin Ranka Bozovic der Agentur den eher traditionellen Wunsch mancher Landsleute nach einem Stammhalter.
Meist seien es die Ehemänner, die von ihren Frauen die Geburt eines Sohnes erwarten – und sie bei deren Ausbleiben die Enttäuschung offen spüren ließen: Das ihnen vermittelte Gefühl, ohne Sohn „weniger wert“zu sein, dränge Frauen daher zur frühen Fruchtwasseruntersuchung.
Abtreibungen sind in Montenegro bis zur 10. Schwangerschaftswoche legal relativ leicht, bis zur 20. Woche in Ausnahmefällen möglich. Bei späteren Schwangerschaftsabbrüchen werden in Privatkliniken satte Zuschläge fällig. Doch trotz eindeutiger Geburtsstatistiken bleibt die Pra- xis der Abtreibung ungewollter Mädchen in den betroffenen Staaten ein Tabuthema.
Da in Montenegro die staatlichen Krankenhäuser die Amniozentese nur aus medizinisch eindeutigen Gründen vornehmen, machen sich dort zweifelnde Schwangere meist die Diagnosedienste einschlägiger Privatkliniken in Serbiens Hauptstadt Belgrad zunutze.
Laut Recherche der Belgrader Tageszeitung „Blic“sind es jedoch keineswegs nur Frauen aus Montenegro, sondern auch aus der Provinz, die in den teuren Privatkliniken die Untersuchung auf mögliche genetische Schäden des Fötus vor allem zur Feststellung von dessen Geschlecht nutzen: „Auch Frauen in Serbien lassen abtreiben, wenn sie erfahren, dass sie ein Mädchen bekommen“, ergaben die Befragungen.