Die EU und Großbritannien einigen sich über die Scheidungsmodalitäten. Die wirklich heiklen Fragen bleiben aber offen.
ARMIN THURNHER:
„Was dürfen wir hoffen?“ist die dritte klassische Frage von Immanuel Kant. Die vorangegangenen beiden lauten „Was können wir wissen?“und „Was sollen wir tun?“. Ich fürchte, wir wissen einstweilen zu wenig, um uns vor dem farblichen Missgriff der Saison zu fürchten. Zugleich ist es zum Fürchten, dass Leute an die Macht gewählt wurden, weil sie es schafften, uns nicht wissen zu lassen, was sie zu tun gedenken. Oder weil sie uns hoffen lassen, dass sie nicht das tun, was wir aus ihren Worten und Taten schließen können. Der einzige Schluss, den wir ziehen können, ist jener der Balkanroute, und der ist ein Propagandaschmäh.
MICHAEL FLEISCHHACKER:
Mir ist das jetzt grad ein bisschen zu wortverspielt, lieber Thurnher. Darum vielleicht zu Beginn ein halbphilosophischer Kalenderspruch, der das Thema, das uns gestellt wurde, zum Ausgangspunkt hat: Es ist nicht so schlimm, wie wir befürchten, und es ist nicht so gut, wie wir hoffen. Ich denke nicht, dass es viel Sinn hat, die eingefrorenen Posthorntöne eines in jeder Hinsicht verunfallten Wahlkampfs aufzutauen. Wenn ich das, was bisher an Einigungen aus den Koalitionsgesprächen bekannt ist, zusammenfasse, erweckt es mir nicht den Eindruck, als würde da an der konservativen Revolution gearbeitet, die vom Justemilieu angstlüstern herbeifantasiert wird.
THURNHER:
Ja, das gute alte Justemilieu! Das lassen wir einmal, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, beiseite. Aus dieser schönen Wendung spricht eine Angst vor der 68er-Bewegung, die Sie, bald 50 Jahre danach, langsam wieder ablegen können. Gerade sah ich Herrn Strache im Fernsehen. Er sagte, jetzt gehe es darum, „die Überschriften mit Leben zu erfüllen“. Das erwarte ich, das haben sie mir im Wahlkampf versprochen und dieses Versprechen werden sie einhalten: lebende Überschriften. Das ist so ziemlich das Fürchterlichste für einen wortverliebten Menschen wie Ein Heimatschutzministerium erfüllt sich mit Leben und ein glühender Europäer chillt mit Viktor Orbán – das sind in meinen Augen „schreckliche Bilder“. Ich fürchte mich nicht, mir graut vor ihnen.
FLEISCHHACKER:
Ja, dann genießen Sie halt Ihr Grauen, steht Ihnen zu, finde ich. Ich fürchte mich weder – schon gar nicht vor den in die Jahre gekommenen 68ern, die zu ihrem 50. Geburtstag ihre „Weißt du noch, Kamerad“-Balladen anstimmen –, noch graut mir. Ich bin neugierig. Ich bin neugierig, ob sich das, was da an großer Veränderung, an „Jetzt oder nie“, an „Es ist Zeit“angekündigt wurde, in konkrete Politik übersetzen lässt. Und wenn ja, ob das eine Politik sein wird, die ich für vernünftig halte oder nicht. Fürchten und Hoffen klingt mir zu sehr nach politischer Theologie, und die hat schon bessere Zeiten gesehen. Ich denke, es wird eine ziemlich durchgängige Enttäuschung geben, bei den Fürchtern genauso wie bei den Hoffern.
THURNHER:
Eh. Ich fürchte mich erst, wenn ich zum Fluss der Angst komme. Ich hoffe natürlich auf Wortbrüche der Freiheitlichen, was deren Europapolitik betrifft. Da stellen sie sich als megasituationselastisch heraus, soviel man erkennen kann. Was da auf Facebook und Youtube nicht alles gesagt wurde! Ich freue mich übrigens auf eine neue Medienförderung, sieht ganz so aus, als würde Sebastian Kurz ernst machen und endlich mit dem Regime von „Krone“und „Österreich“bremich.
Also Regierungsinserate werden ab sofort gestrichen, da bin ich mir sicher! Es wird ein neuer Stil sein, und wir werden sagen können, wir hätten eine große Zeit gekannt, als sie noch ganz klein war …
FLEISCHHACKER:
Ja, schaun mer mal. Eins würde mich jetzt interessieren, lieber Thurnher: Was konkret erwarten Sie denn von dieser Regierung, die sich da abzeichnet, konkret an Dingen, die Sie ablehnen oder für grundfalsch halten werden? Und gibt es irgendetwas unter den Dingen, die bisher angedeutet wurden, was Sie sogar für richtig halten würden? Ich würde einfach gern ein besseres Gefühl für Ihr Grauen bekommen. Wer weiß, vielleicht fürcht ich mich mit? Furchtgemeinschaften, höre ich, sind ja den phobokratischen Zeiten, in denen wir leben, besonders gut geeignet, ein Wir-Gefühl zu erzeugen.
THURNHER:
Sie haben nicht genau mitgelesen, ich fürchte mich nicht, mir graut nur vor lebenden Schlagzeilen. Also gut: Ich hielte es für richtig, der EU jetzt eine andere Richtung zu geben. Ich sehe, dass Europa die historische Chance verpasst, sich von der amerikanischen Hegemonie ansatzweise zu emanzipieren. Nicht dass ich glaube, Österreich hätte eine wichtige Rolle dabei zu spielen, aber eine symbolische würde ich ihm zutrauen. Es wird nun in Richtung eines Europa der Vaterländer gehen, leider. Phobokratisch ist hübsch, stammt von Sloterdijk, soviel ich mich erinnere. Das ruft mir in Erinnechen. rung, dass die rechten Angsthasen gewonnen haben. Jene, die uns vor den Ausländern Angst machen, die sich vor der Umvolkung fürchten und im wasserdichten, grenzgeschlossenen Nationalstaat verharren wollen. Zu denen gehören Sie ja nicht, denke ich. Oder?
FLEISCHHACKER:
Nein, zu denen gehöre ich nicht. Aber ich denke, dass Grenzen eine ziemlich wichtige Sache sind. Und außerdem sehe ich das alles aus einer ziemlich privilegierten Position, ich muss nicht besonders mutig sein, um keine Angst zu haben. Aber selbst aus dieser privilegierten Position heraus denke ich, dass diese „andere Richtung“, mit der Sie, wie ich vermute, das meinen, was Autoren wie Ulrike Guérot und Robert Menasse propagieren, nämlich das Ende des Nationalstaats zugunsten einer europäischen Staatlichkeit samt aufgewerteten „Regionen“, keine gute Idee ist. Ich glaube nicht, dass die richtige politische Antwort auf Euroskepsis das Mantra „Mehr Europa“sein kann. So sehr ich politisches Selbstbewusstsein schätze, so wenig glaube ich, dass die pädagogische Grundierung von Politik und Medien, für die Sie in Österreich fast exemplarisch stehen, eine Zukunft hat.
THURNHER:
Tja, die Welt ist voller Missverständnisse. Ich meine eine Abkehr vom Regime der Finanzwirtschaft, einen euroin päischen Sozialstaat, jedenfalls kein Ausspielen der nationalen Karte. Was die Aufwertung der Regionen betrifft, sehe ich genügend Gefahren. Ehemalige Politiker haben eine Reform des österreichischen Staatswesens vorgeschlagen, die viel von den beklagten Doppelgleisigkeiten, Leerläufen und Blockaden durch Reduzierung von Landtagen und von Bundesländern auf den Status von Ministerien aus der Welt schaffen würde. Der Vorschlag ist so vernünftig, dass ihn niemand diskutieren mag. Was mein medial-pädagogisches Bemühen betrifft, beschränke ich mich auf Kritik. Ich hoffe, Sie fühlen sich nicht von mir erzogen. Auch das wäre ein Missverständnis.
FLEISCHHACKER:
Nein, nein, lieber Thurnher, auf meine Schwererziehbarkeit ist auch in diesem Fall Verlass. Aber ich bemerke das Bemühen und bin verstimmt. Ganz hab ich ja noch nicht verstanden, was Ihnen vorschwebt, denn der europäische Sozialstaat, der durch eine Abkehr von der sogenannten Finanzwirtschaft aufstehen soll wie der Phönix aus der Asche, wird, wenn er weder Nationalstaaten im Rücken hat noch aufgewertete Regionen, ein ziemlich zerrupfter Vogel bleiben. Aber bei den Vorschlägen zur Reform des österreichischen Ausgabenföderalismus könnten wir uns vermutlich sogar einigen. Möge die Denkmacht mit uns sein.