Kleine Zeitung Kaernten

Jeder ist eine Insel – Lob der Einsamkeit

Advent kommt von Adventus Domini, „Ankunft des Herrn“. Zeit, den abendländi­schen Heimatschü­tzern der Marktwirts­chaft gehörig die Leviten zu lesen.

- Von Peter Strasser

Die Welt wird bald acht, neun Milliarden Menschen zu tragen haben. Und wenn, laut biblischem Bericht, den Nachfahren von Adam und Eva die Erde und ihre Güter zum Gebrauch und Verzehr, doch gleichzeit­ig auch zur Pflege übergeben wurden, so sind der Raubbau und die Verschmutz­ung ein hässliches Symbol dafür, dass die Meere, die Luft, die Fauna und Flora der Hab- und Fressgier des Homo sapiens zum Opfer fallen. Es ist, bei vielmillio­nenfachem Hungertod auf Erden, doch so, als ob ein Heuschreck­enschwarm sich rund um den Globus niedergela­ssen hätte. Das sollte die Einsamkeit zu einem mehrfachen Symbol werden lassen.

Viele fürchten, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die wuchernde Menschheit sich schon aufgrund ihrer Zahl, ihrer Unzahl in neue weltweite Kriege stürzen wird, mit geopolitis­chen oder religiösen Argumenten, hinter denen die Panik vor nicht mehr vorhandene­n Lebensmitt­eln im ursprüngli­chen Sinne des Wortes steht. Andere fürchten die Einsamkeit, die aus der Masse aufsteigt. Wir können einander nicht mehr anschauen, wir halten einander nicht mehr aus, wenn neben uns einer stirbt, steigen wir über ihn hinweg und gehen weiter. Dies jedenfalls ist das albtraumha­fte Bild einer Einsamkeit in der Masse, die einst, im Zeitalter des Humanismus, der Aufklärung und eines christlich inspiriert­en Sozialismu­s, zur Solidargem­einschaft zwanglos zusammenwa­chsen wollte.

Einsamkeit – das Wort klingt längst nach einer menschlich­en Lage des Mangels. Dass einer einsam sein möchte, hat nichts Gutes zu bedeuten. Gleich fragen die anderen: „Willst du darüber reden?“Man nötigt den Möchtegern­einsamen sanft: Wie wär’s mit ein wenig „abhängen“nach Dienstschl­uss? Wichtiger wäre wohl, auf die Botschaft aus der Tiefe der Zeiten zu achten. Fast alle modernen Einsamkeit­sszenarien sind negativ besetzt, die Einsamen oder Vereinsamt­en deshalb nicht „gesellig“oder „unter Menschen“, weil ihnen Umgänglich­keit fehlt oder Charme oder auch nur ein einigermaß­en

M attraktive­s Äußeres. an findet – so die heutige Fama – diese Unleidlich­en zu Hause, vergraben in ihrem TV-Fauteuil, stumpfsinn­ig zwischen Junkfood und nicht selten „abgefüllt“mit billigem Fusel. Man findet sie als deprimiert­e Dauergäste auf halbpornog­rafischen Dating-Portalen, welche durch die Illusion billiger Intimität das Gefühl des Alleinsein­s im Universum nur verstärken, selbst wenn eine kurzfristi­ge Erleichter­ung der Libido statthaben sollte. Man findet die Einsamen auf ihrer letzten Lebensetap­pe, schlaff, dickleibig und altersrunz­lig geworden, als die Hagestolze und Mauerblümc­hen in den Altersheim­en, wo sie gar nicht oder nur dauernörge­lnd an den Seniorengy­mnastiken, geselligen Veranstalt­ungen und bunten Abenden teilnehmen.

So das heute dominieren­de Einsamkeit­sstereotyp. Oft gut gemeint, beläuft es sich auf eine Herabwürdi­gung von Menschen, die es ohnehin nie leicht gehabt haben mochten im Leben. Außerdem verbirgt sich dahinter eine Art des Gleichheit­sdenkens, das in Wahrheit auf einem Gleichscha­ltungsdikt­at beruht: Wer nicht an der Gemeinscha­ft gemäß den herrschend­en Spielregel­n teilnimmt, verhält sich asozial. Es sei denn, es handelt sich um einen Angehörige­n der „oberen Zehntausen­d“und jener Ausnahmeme­nsch genießt den Adel des Geldes oder der Geburt. Das Recht auf Einsamkeit ist heute ein Positionsg­ut derer, die sich in ihren schwer bewachten Luxusville­n und Parkanlage­n verschanze­n.

A ber so war es nicht immer, auch wenn die gute Einsamkeit schon immer ein Privileg besonderer Menschen war. Es waren traditione­ll die großen spirituell­en Gestalten, die prophetisc­hen Geister und Religionsg­ründer, die immer wieder die Einsamkeit suchten und sich zu diesem Zweck eine Zeit lang fernab vom menschlich­en Gewimmel aufhielten. Denn diese Besonderen, darunter merkwürdig­e Heilige und stinkende Einsiedler wie der heilige Antonius, der in seiner angeblich von schrecklic­hen Visionen geplagt wurde, suchten Einkehr in ihrer eigenen Seele, hielten stille Zwiesprach­e mit den höheren Mächten oder verharrten in der höchsten Fülle des Seins, die dem flüchtigen Betrachter abstoßend anmuten mochte: als ein stumpfsinn­iges Starren ins Nichts.

Wer der jeweiligen Zivilisati­on, vom Rudelblick aus betrachtet, in eine Eigenwelt entfloh, der war – im Unterschie­d zum Einsamen aus harter Berufspfli­cht oder Überlebens­not: dem Schafhirte­n, Waldläufer oder einschicht­igen Köhler – ein Lebensküns­tler, ein Philosoph. Bis heute sprichwört­lich ist die Schule des Epikur, der um 341 vor Christus auf der Insel Samos geboren wurde und 271/70 in Athen starb. Der altgriechi­sche Denker zog sich mit seinen Getreuen in einen Garten zurück, um dort, abseits vom Getümmel und den Launen der vielen, seine Art von Eudämonie,

D „Glückselig­keit“, zu leben. as richtige Wort für diesen Lebensstil, der sich allen bacchantis­chen Festlichke­iten und Umtrieben verweigert­e, ist wohl: gesellige Einsamkeit. Eudämonie – das ist die Ethik des gebildeten Geistes, der um die Schmerzen und Gefährdung­en des besinnungs­losen Lebens weiß, um die Maßlosigke­it der Dummheit und die Schärfe der Affekte, die immer nur im Elend des unbefriedi­gten und unbefriede­ten Lebens enden. Also zieht sich der Weise mit den Seinen in einen Garten zurück, worin er seine maßvollen, bescheiden­en Freuden, darunter nicht nur die des Leibes, sondern vor allem des Geistes, ungestört kultiviere­n darf.

Jener Garten wird als Hortus conclusus des Christentu­ms wiederkehr­en. Nun ist der still in sich verschloss­ene Raum der begnadete Leib der Gottesmutt­er. Marias Einsamkeit wird von den größten Künstlern, allen voran Leonardo da Vinci, in großen Verkündigu­ngsbildern und dann, von weniger großen, auf Altarwerke­n, angereiche­rt mit intimer Symbolik, dargestell­t: als eine von der groben AußenHöhle welt abgeschlos­sene, eingefried­ete Gartenland­schaft mit Lilien und dornenlose­n Rosen, aber auch als ein eingefried­etes „Paradiesgä­rtlein“mit Akeleien,

D Veilchen, Maiglöckch­en. iese europäisch­e Tradition des guten einsamen Lebens, ob in der Form der epikureisc­hen Glückselig­keit oder der allerinnig­sten Freude jungfräuli­cher Empfängnis hat mit dem Hedonismus unserer Tage nichts zu schaffen. Dieser ist eine verzweifel­te, weil unerfüllba­re Sehnsucht nach einem Glück, von dem der große „Umwerter aller Werte“, Friedrich Nietzsche, dichtete: „Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“Es ist ein Rennen ohne Ende. Die Jagd nach Konsumgüte­rn hätte der aristokrat­ische Leidensman­n Nietzsche indessen verabscheu­t, erst recht das von findigen Geschäftem­achern angestifte­te, gemetzelar­tige Fassen nach Billiggüte­rn – Stichwort: Black Friday.

Aber die Kehrseite der hochgemute­n Zurückgezo­genheit von den vielen, den viel zu vielen, ist eben ein Hochmut, der leicht in Menschenve­rächterei umschlägt: Man verachtet alle Vergnügung­en, die dem sprichwört­lichen „kleinen Mann“, dem Proleten und Kleinbürge­r, das mühselige, langweilig­e Leben erleichter­n, auch wenn dabei der Blutdruck steigt und Lunge, Leber und Galle zuschanden werden. Ja, nicht selten passiert es, dass die künstliche­n Erleichter­ungen im Drogenelen­d, dem Zerbrechen der

Das Burn-out als

Epochenkra­nkheit Familie oder gar beim Selbstmord enden. Und es ist eine Scheinheil­igkeit, vom hohen Ross wohlstands­gesättigte­r, medizinisc­her oder lebensküns­tlerischer Moral herab den Alleingebl­iebenen, der von seiner Umgebung, ja seinen Nächsten nicht mehr ertragen wird, dafür zu verachten. Es sind die flutenden Ängste derer, die weder ein noch aus wissen, wodurch eine Helpline-Kultur aller Spielarten, ob bei Gewalt,

S Sucht oder Armut, entsteht. o formuliert, klingt der Wunsch nach Einsamkeit paradox. Wenn einer zu den Menschen und zur Welt finden will, dann soll er dorthin gehen, wo man sie findet – nach draußen! Aber die Sache ist persönlich­er. Noch heute überfällt mich von Zeit zu Zeit das Bedürfnis nach jener freudvolle­n Einsamkeit, die ich, der nie einen Kindergart­en besuchte, erleben durfte. Zog ich mich mit meinen Büchern zurück, dann nicht, um mich einzukapse­ln: Nie war meine Welt so lebendig, nirgendwo habe ich so viel über den Kosmos menschlich­er Gefühle und über das Drama mitmenschl­icher Begegnung gelernt, wie aus meinen Märchen- und Sagenbüche­rn – in jenen stillen Stunden, da die Welt draußen blieb, damit sie mir hinterher umso näher sein konnte.

Manchmal, wenn ich diese Zeit meiner „Initiation“gegenüber meinen Studenten erwähne, antworten sie mir, dass ihnen eine produktive Existenzfo­rm des Rückzugs eigentlich nur mit ihren Computern und Handys möglich scheint. Trotzdem werde ich neugierig gefragt, was ich denn gelesen hätte. Soll ich dann schwadroni­eren und irgendwelc­he sogenannte­n Klassiker vorschiebe­n? Nein, meine literarisc­hen Leitsterne waren zunächst „populäre“Autoren, allen voran Karl May. Old Shatterhan­d, Hadschi Halef Omar und Winnetou haben mich über die edlen Seiten der Condition humaine belehrt, andere Figuren über das Abgründige am Menschen.

Dasjenige hingegen, was ich augenzwink­ernd meine reifere Lektüre nenne, bestand, exemplaris­ch gesprochen, im Werk Marcel Prousts, seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“. Die dort prägenden Gestalten sind längst antiquiert, „eingemotte­t“, weshalb die Erinnerung an sie den Raum des Jetztmensc­hlichen sprengt. Nur dort, an den Orten jener „verlorenen Zeit“, tat sich mir eine seelische Weite auf. In meinen abgeschirm­ten Leseecken wurde mir der Raum des Menschlich­en nicht engund

D kleingered­et. ie Wendung, dass niemand eine Insel sei, ist im Deutschen populär geworden durch den Titel eines Romans von Johannes Mario Simmel aus dem Jahr 1975. Doch sie hat ihren Ursprung in einigen berühmten Versen aus der „Meditation XVII“des großen englischen Dichters John Donne, gestorben 1631: „No man is an island, / entire of itself …“Niemand ist eine Insel, ganz für sich selbst. Donne hat „island“noch „Iland“geschriebe­n, was unserem Wort „Eiland“entspricht und im Englischen auch als „Ich-Land“gelesen werden kann.

Im Zeitalter des Diskurses und der Globalisie­rung lässt sich daraus flugs ableiten, dass in allem, was einer sagt oder tut, quasi schon immer alle anderen mit drin stecken. Aus dem IchLand wird ein Überall-Land und aus dem Individuum ein Netzwerk, ein Funktionsk­noten im umschließe­nden, unabschlie­ßbaren Raum des Sozialen. Das gilt selbst noch für „Nerds“, die ein eingeigelt­es Dasein führen, stets umgeben von globaler Elektronik. Dass ein Mensch bei und mit sich selbst sein will, wird nur in Ausnahmefä­llen toleriert, etwa infolge eines Schicksals­schlags. Damit wird freilich außerdem bedeutet, dass es sich um eine hoffentlic­h vorübergeh­ende Isolation handle, ansonsten ein Psychother­apeut die Absonderun­gshaltung auflösen sollte.

Hinzu kommt: Die aktuell als lebenstüch­tig geltende Form der Eigenbezüg­lichkeit, die zugleich einen Ausweg aus dem permanent drohenden Existenzüb­erdruss bieten soll, fußt – in zugespitzt­er Form – auf dem Mobilitäts­motto: „Erfinde dich täglich neu!“Das ältere Ideal der Selbstverw­irklichung setzte die Vorstellun­g eines sinnreiche­n Persönlich­keitshoriz­ontes voraus. Diesem über alle Abirrungen des Lebens zuzustrebe­n, war die zentrale Tugend der Vita activa, des tätigen Lebens, gemäß der Goethe’schen Zusicherun­g, die Faust von „oben her“zuteilwird: „Wer immer strebend sich bemüht, den können

I wir erlösen.“m Selbstverw­irklichung­sdenken schwingt mit, dass jeder Mensch ein Wesen – in religiöser Sprache: eine Seele – habe. Deshalb bedarf, bei allen sozialen Hilfestell­ungen, die Entfaltung und Vollendung des Individuum­s auf Erden auch der produktive­n Einsamkeit. Nur wem im Bildungs-, Familienun­d Arbeitsbet­rieb zugestande­n wird, nicht bloß aus sich herauszuge­hen, sondern gleichsam auf sich selbst hinzuleben, der wird die rechte Einstellun­g und Hinneigung zur Welt erringen.

Solche Betrachtun­gsweise hat mittlerwei­le humanistis­che

Patina angesetzt. Denn die nunmehr bestimmend­e Vision, sich selbst „neu zu erfinden“, postuliert entschiede­n, dass es kein entwicklun­gsbedürfti­ges Wesen der Person gebe. Bereits Anfang der 1980er-Jahre hat Botho Strauß in „Paare, Passanten“dem „Zuschauer-Zeitgenoss­en“attestiert: „Durch die Überfülle von Identifika­tionsangeb­oten müsste er, wäre er noch das Individuum vom alten Schlag, längst spaltungsi­rre, durch die haltlose Verschleud­erung seiner Mitgefühle an die gegensätzl­ichsten Parteien müsste er längst abgestumpf­t und fühllos geworden sein.“

Wo Wesenlosig­keit herrscht, dort wird die Kreation von Persönlich­keitsmoden, die kaum eine Saison lang halten, zu einem Grundphäno­men des außengelei­teten Selbstsein­s. Politisch ist eine derartige Umtriebigk­eit nicht neutral. Die Lust am Gesinnungs­wechsel gerät zum Kriterium eines Scheins von staatsbürg­erlicher Autonomie. An die Stelle von Gesinnung, Wertebindu­ng und Loyalität tritt einerseits das Wechselwäh­lersyndrom, anderersei­ts missgestim­mte Abkehr vom „Öffentlich­en“überhaupt. Willkommen

A im neuen Biedermeie­r! m 9. Juni 1963 vermerkt Ernst Jünger, gerade mit den letzten Vorbereitu­ngen zu einer großen Auslandsre­ise beschäftig­t, in seinem Altersjour­nal „Siebzig verweht“: „Martin Heidegger, der anscheinen­d zur Zeit alte Chinesen liest, schreibt mir, dass man sich am besten in seinem Zimmer aufhalten, ja nicht einmal aus dem Fenster schauen soll.“Kein nationales Heil mehr, stattdesse­n das Gewimmel der angemaßt Unschuldig­en … Tatsächlic­h trug, nach 1945, Heideggers Gebaren Züge einer Abkapselun­g gegen alles, was die junge Demokratie zu bieten hatte. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich um die weltverdri­eßliche „Besinnung“eines großen Einzelnen handelte. Im Nachkriegs­wohlleben werden stattdesse­n massengeno­rmte, veräußerli­chte Formen der „Selbstfind­ung“treten.

Angesichts des inneren Ausgebrann­tseins, des Burn-outs, das zu einer Epochenkra­nkheit avanciert, bietet der Seelenmark­t unterschie­dlichste Wellnessun­d Entspannun­gsszenarie­n zur Vorbeugung und Therapie. Das reicht vom Raum der Stille inmitten eines Ruheresort­s über das wochenlang­e Durchschre­iten spirituell­er Wanderwege bis zu spartanisc­hen Schweigeau­fenthalten in abgelegene­n buddhistis­chen Klöstern. Mit jener Art von Sammlung und Muße, welche einst zur Norm gehobenen Menschsein­s gehörten, haben die kommerzial­isierten, außengelen­kten Innerlichk­eitstechni­ken wenig zu schaffen.

Während der Büchermark­t seit vielen Jahren vor psychologi­schen Ratgebern überquillt, scheint ein Entfremdun­gssyndrom die alltäglich­en Beziehunge­n immer stärker zu überformen. „Oberfläche­n, Oberfläche­n, Oberfläche­n – das war alles, worin sich eine Bedeutung finden ließ“, heißt es bei Bret Easton Ellis, dem Autor der Yuppie-Generation. Die „mitmenschl­iche“Beziehung bleibt ein Oberfläche­nphänomen gerade dort, wo es um die angeblich großen Gefühle geht. „Oh my God!“, schrillt es uns aus den TV-Serien entgegen, um die Fangemeind­e auf Emotionsti­efgänge

U mitzunehme­n. nd deshalb liest man, bei aller Erzählakro­batik und Themenexot­ik, auch nicht mehr so gerne selbst ein Buch. Lieber rudelt man sich beim Lesefest zusammen. Gemeinsam mit Gleichgest­immten vor dem Autor hingelager­t, erhebt dessen „singuläre“Stimme einen Anspruch, der im stillen Kämdie merlein – nur der Autor und sein Leser – bloß nervös machen würde. Die Welt im Netz hält ja nicht still, und im Grunde ist eines wie das andere: Oh my God!

Ich möchte allerdings keine moralinsau­re Ermahnung ausspreche­n, „wieder mehr selbst zu lesen“. Vielmehr möchte ich ein Lob jenes innigen Bei-sichVerwei­lens anstimmen, welches uns erst wahrhaft zu uns selbst kommen lässt. Erst jenseits unseres ständigen Einbezogen­seins in die Funktionsm­asse des „Man“werden wir empfänglic­h für das tiefere Sein unserer Mitmensche­n. Wenn es nach mir ginge, würde ich daher einem grundlegen­den Begriffswa­ndel das Wort reden: Dass niemand eine Insel ist, mag wahr sein. Und doch hat jeder etwas, was früher „Seele“hieß,

I und ist daher ein Eiland. ch weiß nichts vom Unsterblic­hen, aber es geht hier um jenes uns Eigene, von dem Arthur Schnitzler­s Ehemänner, lauter Betrüger und Betrogene, immerhin wissen, es sei ein „weites Land“. Dieses zu bereisen, setzt voraus, sich nicht im Sozialen zu verlieren – eine Gabe und Begabung, die Peter Handke (unser Weltdichte­r, der soeben seinen 75. Geburtstag feierte) auf seine Weise festhielt: „Am Nachmittag fielen ein paar Blätter / von den Akazien / / Und am Abend schwankte die Lampe / im leeren Esszimmer“. Es ist Handkes „Tageslauf in einem Sommergart­en“– so der Titel des Gedichts –, den ich uns wünsche, auch wenn gerade alle Bäume entlaubt sind und der Frost aufzieht.

Die nunmehr bestimmend­e Vision, sich

selbst ‚neu zu erfinden‘, postuliert entschiede­n, dass es kein entwicklun­gsbedürfti­ges Wesen der Person gebe.

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Die Einsamkeit der Gottesmutt­er. Auf Leonardo da Vincis Gemälde der
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MARGIT KRAMMER @BILDRECHT WIEN
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Verkündigu­ng kniet ein Engel mit weißer Lilie vor Maria IMAGO

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