Warum die Börsen verrücktspielen
Bis zu 1600 Punkte fiel der US-Aktienindex Dow Jones in die Tiefe. Europas Börsen verloren in Folge massiv. Experten halten Angst vor einem Crash mit weitreichenden Folgen aber für unbegründet.
1600 Punkte stürzte der Leitindex der US-Börse am Montag zeitweise in die Tiefe, ein kurstechnisches Blutbad an der New Yorker Wall Street. Am Schluss waren es 1175 Zähler (–4,6 Prozent): So viel verlor der Dow Jones an einem einzigen Tag noch nie. 800 Zähler büßte der Index gar innerhalb von nur 15 Minuten ein, Konsequenz computergesteuerter Finanzmärkte. Sobald eine Richtmarke durchbrochen wird, wirft das System in Sekundenbruchteilen Papiere auf den Markt. Dieses algorithmengesteuerte Potenzmittel für Verluste führt zum „Flash Crash“. Wenig überraschend setzte sich der Kursrutsch am Dienstag an Börsen in Europa und Asien fort. Japans Aktienindex Nikkei verlor 4,7 Prozent und die Börse in Hongkong schloss mit einem Minus von 5,1 Prozent. In Europa lag der Euro Stoxx 50 mit 2,46 Prozent im Minus. In London verlor der FTSE 100 2,64 Prozent. Der deutsche DAX lag 2,32 Prozent tiefer, der ATX schloss mit einem Minus von 2,81 Prozent. Der Dow Jones hingegen blieb am Dienstag weitgehend stabil.
Was war geschehen? Auf die Finanzkrise folgten einmalig niedrige Zinsen und eine Geldschwemme der Notenbanken. Das führte zum Anlagenotstand, der Aktien begünstigt. Nun folgt die paradoxe Gegenreaktion. Denn die Wirtschaft brummt. US-Experten rechnen daher mit einer höheren Inflation, was Druck auf die US- Notenbank erzeugt, Zinsen weiter anzuheben. Doch steigende Zinsen sind an den Börsen nicht gerne gesehen. Zudem wollen auch die Mitarbeiter über höhere Löhne vom Aufschwung profitieren. Die Folge: weniger Dividende für die Aktionäre.
In Europa sind steigende Zinsen weiter nicht in Sicht, der Leitzins der EZB verharrt auf 0,0 Prozent. Ihr einziger Auftrag ist das Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent, und dieses ist noch weit entfernt. Deshalb überrascht das Ausmaß der Kurskorrektur in Europa nicht nur Bank-Austria-Analystin Monika Rosen. Denn weder die Fundamentaldaten der Wirtschaft noch stark zulegende Renditen bei Staatsanleihen könnten den Sturz auf Europas Börsen erklären. Und die üblichen „Gewinnmitnahmen“nach der Hausse der Vormonate gebe es zwar, bloß sei der Zeitpunkt dafür nicht plausibel.
Auch Raiffeisen-Chefanalyst Peter Brezinschek wundert sich: „Es ist paradox, dass Europa bei dieser Korrektur mitmacht.“Er sieht zumindest in den USA den Beginn einer Phase mit höheren Schwankungen. Kurseinbrüche von zehn bis 15 Prozent werde man heuer noch öfter sehen. Erste-Bank-Chefanalyst Friedrich Mostböck schätzt die Lage in Europa optimistischer ein: Unternehmen seien günstiger bewertet, der Konjunktur- und Zinszyklus verlaufe anders als in den USA.
Einen nachhaltigen Rückgang oder gar Crash halten die Experten unisono für unwahrscheinlich: Die Verfassung der Weltwirtschaft weise eher auf Aufschwung hin, die Gewinne der Unternehmen seien noch nicht am Gipfel. Aber hohes Risiko werde zunehmend vermieden, sagt der Aktienstratege der Erste Asset Management, Peter Szopo: „Wachstumsbeschleuniger aus niedriger Inflation und niedrigen Zinsen gehen dem Ende zu, das gesamtwirtschaftliche Umfeld geht in Richtung Normalisierung.“