Teure Notgemeinschaft
Kein Gestaltungswille, keine Tatkraft, keine Idee, was Deutschland ist und was es sein soll. Die alte neue Berliner Koalition erinnert an die Endphase von Rot-Schwarz in Wien.
Jetzt hat sie es also doch noch geschafft. Vorausgesetzt, die SPD-Basis erteilt ihren Sanctus, steht einer vierten Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel nichts im Wege.
Der politische Stillstand in der größten Volkswirtschaft der EU ist überwunden. Das ist gut für Europa. Die Koalition selbst bietet freilich ein tristes Bild. Von Aufbruchsstimmung, ja Feierlichkeit, wie sie solchen Momenten innewohnt, ist nichts zu spüren. Von Alternativlosigkeit ist dagegen die Rede. Union und SPD legitimieren ihre Notgemeinschaft damit, das Land vor Weimarer Verhältnissen zu bewahren. Tatsächlich ist nicht die Demokratie in Deutschland in Gefahr. Es ist das System Merkel, das am Ende ist. Das wissen die Koalitionäre. Deshalb mühten sie sich in den Verhandlungen so ab, deshalb kommt ihre Zweckehe so freudlos daher.
Seit über zwölf Jahren regiert Angela Merkel nun das Land. Ökonomisch steht Deutschland prächtig da. Die Wirtschaft wächst und die Arbeitslosigkeit sinkt. Zum vierten Mal in Folge erwirtschaftete der Staat 2017 einen Budgetüberschuss. Aber wo beweist die Kanzlerin Tatkraft, wo lässt sie klaren politischen Gestaltungswillen erkennen?
Willy Brandt war der Vater der Ostöffnung, Helmut Kohl der Kanzler der Wiedervereinigung und Gerhard Schröder leitete mit der Agenda 2010 einige der größten Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik ein. Aber was ist eigentlich Merkels großes Projekt?
Von der Atompolitik über die Eurokrise und die Bildung bis hin zur Ehe für alle stellt die Politik der Kanzlerin eine einzige Abfolge von der Not oder dem politischen Kalkül entsprungenen Kehrtwenden dar. Auf diese Weise hat sie nicht nur ihre eigene Partei programmatisch entkernt. Durch die Aneignung der politischen Inhalte ihrer Mitbewerber hat sie noch jeden ihrer Partner zu Tode umarmt.
Am schwersten freilich wiegt, wie Angela Merkel mit der unbedachten Grenzöffnung im Spätsommer 2015 und danach einstmals klassisch konservativbürgerliche Politikfelder wie Sicherheit und Identität preisgegeben und damit das deutsche Parteiengefüge bis ins Mark erschüttert hat.
Der Aufstieg der AfD als neue politische Kraft rechts der Union ist die wahre Zäsur der deutschen Politik der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Sie wird sich auch nicht mit den vielen Milliarden Euro begradigen lassen, die die Große Koalition über der Bevölkerung ausschüttet. Mehr Geld für Geringverdiener, Mütter und Kinder, mehr Pflegekräfte, mehr Wohnungen – über weite Strecken liest sich der Koalitionsvertrag so, als ob eine SPD-Alleinregierung D ans große Umverteilen ginge. och es ist eine Illusion, zu meinen, die Gunst der Wähler ließe sich mit viel Geld erkaufen. Am Ende wird die deutsche Große Koalition daran gemessen werden, ob sie dem Land ein positives Zukunftsbild zu geben vermag.
Ein solches ist nicht auszumachen. Der Start in Moll erinnert an die Endmoränen von RotSchwarz in Österreich – mit der AfD als nunmehr stärkster Oppositionspartei auf der Lauer.