Unermüdlich in den Ruhestand
KÄRNTNER DES TAGES. Nach 45 Jahren an der Uni Graz und 25 Jahren als Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung geht der aus Kärnten stammende Historiker Stefan Karner in Pension – von Ruhestand ist aber keine Rede.
Herr Professor Karner, am heutigen Freitag wird 25 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, deren Leitung sie in dieser Zeit innehatten, sowie Ihr 65. Geburtstag und somit auch Ihr Pensionsantritt gefeiert. Wie geht es Ihnen damit?
STEFAN KARNER: Sehr gut. Die Pension ist für mich kein Ruhestand. Ich halte es mit Voltaire: „Der Mensch ist nicht für die Untätigkeit geboren.“Aber jetzt kommt – nach all den Jahren der Pflicht – die Kür. Außerdem ist es schön, wenn man nach 25 Jahren die Leitung des Instituts in sehr bewährte, aber wesentlich jüngere Hände geben kann. Barbara Stelzl-Marx, meine Nachfolgerin, war von Anfang an am Institut tätig und konnte es wesentlich mitentwickeln.
Für viele steht das Institut für die Aufarbeitung der Schicksale von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Gibt es noch weitere Forschungsschwerpunkte?
Wir haben unzählige Projekte gemacht – wie etwa zum Prager Frühling oder auch zum Gipfel KennedyChruschtschow. Mehr als 100 Bücher haben wir herausgebracht sowie viele Tausende Seiten an Beiträgen. Außerdem haben wir zahlreiche Projekte und Konferenzen durchgeführt. Unsere großen Themen sind humanitäre Kriegsfolgen bzw. Konfliktforschung, aber es werden auch vermehrt Migrationsfragen sein. Angefangen hat es 1993 natürlich mit der Forschung zu den Kriegsgefangenen.
Apropos Kriegsgefangene. Sie waren bekanntlich der erste westliche Forscher, der in Moskau Zugang zum Sonderarchiv des Ministerrates der Sowjetunion erhielt. Wie ist es dazu gekommen?
Ich habe 1991 einen Vortrag in Jekaterinburg gehalten. Dort wurde mir dann erzählt, dass es in Moskau ein Archiv zu Kriegsgefangenen gibt. Durch meine Recherchen wusste ich, dass das Schicksal Zigtausender Österreicher damals noch ungeklärt war. Das Archiv hatte aber weder eine Adresse noch eine Telefonnummer. Deshalb wurde mir eigens eine Karte gezeichnet, damit ich hinfinde. Es war gerade die Zeit des Umbruchs und der neue Archiv-Direktor war zum Glück sehr aufgeschlossen. Wir durften die Daten der österreichischen Kriegsgefangenen aus den Daten von insgesamt sechs Millionen Gefangenen herausholen. 30 Leute haben ein Jahr lang gearbeitet. Bisher haben wir an die 12.000 Schicksale klären können.
Besteht in der Bevölkerung überhaupt Interesse an diesen Informationen?
Unterschiedlich. Insbesondere bei der Kindergeneration hat es oft geheißen: „Das muss ich nicht unbedingt wissen.“Bei den Enkeln der Kriegsteilnehmer – ist das völlig anders. Sie kommen jetzt zu uns und fraZahlreiche. gen: „Was war mit meinen Großvater? War er bei Kriegsverbrechen mit dabei?“und so weiter. Das ist hochinteressant, das haben wir so eigentlich nicht erwartet. Erst kürzlich haben wir den Zugang zu den Daten von 4000 Österreichern bekommen, die in Stalingrad waren und in den Lagern oder den Feldlazaretten verstorben sind. Da haben wir in den ersten fünf Tagen rund 150 Anfragen bekommen.
Was zählen Sie zu den Höhepunkten in ihrer jahrzehntelangen Karriere?
Einerseits sicher die Aufarbeitung der Schicksale von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Damit konnten wir direkt Menschen helfen. Das treibt nicht nur mich weiter, das treibt das ganze Team weiter. Denn einen Menschen aufzufinden, auch wenn er erwarteterweise schon tot ist, heißt auch, den Angehörigen Ungewissheit zu nehmen. Das ist ein besonderes Glücksgefühl, das man sonst als Historiker nicht hat. Als schönen Abschluss meiner aktiven Zeit sehe ich das Haus der Geschichte in St. Pölten. Das habe ich seit 2014 mit einem Team aufgebaut. Es wurde im Vorjahr eröffnet.
Was haben Sie in Ihrer ersten Woche in der Pension vor?
Am Montag habe ich Vorlesungen und ab Dienstag bin ich in Berlin. Dort habe ich einen großen Vortrag über totalitäre Systeme. Danach bin ich in Wien – denn am 9. März veranstalten wir dort eine internationale Tagung zum Jahr 1938 und den Anschluss.
Das hört sich nicht so an, als hätten Sie in ihrer Pension mehr Zeit für Privates oder Ihre Frau.
Sie sprechen einen wunden Punkt an (lacht). Meine Frau hat immer alles mitgetragen. Ich bringe es so auf den Punkt: Unsere Hochzeitsreise 1975 war ins Bundesarchiv nach Koblenz. Mehr muss ich da wohl nicht dazu sagen. Sie hat mich immer sehr unterstützt. Sie ist zwar keine Historikerin, aber sie hat in den Archiven das Handwerkliche, das Handling, perfekt gemacht. Das heißt: Akten herholen und fürs Kopieren einteilen. Das ist die Hälfte der Zeit. Begonnen hat das in Koblenz, dann Amsterdam, Washington, Moskau.