Lesen Sie jeden Tag ein Gedicht!
Wir kennen heute genau drei Literaturgattungen, das Telefonbuch, den Krimi und Erich Fried. Wer liest noch das Telefonbuch?
Als das Bildungsbürgertum noch ein solches war, haben sich in seiner guten Stube, dem Salon, auch Gedichtbände gefunden. Trakl, Celan, viel später Kunze. Und heute? Auf Anhieb würde mir kein Lyriker einfallen, der gelesen wird, was ich nicht den Dichtern zur Last lege, sondern vor allem unseren Medien, die das Gedicht allmählich zum ungeliebten Stiefkind gemacht haben. Studiert man die Bestsellerlisten der letzten Wochen im „Spiegel“oder in dieser Zeitung, wird man keinen einzigen Gedichtband aufspüren. Derzeit führt bei unseren Nachbarn eine gewisse Jojo Moyes und hierzulande Arno Geiger. Von Bydlinski oder Ganglbauer keine Spur. Geschweige denn von Gustav Januˇs. Die Schwierigkeiten fangen bei den Verlagen an. Welche Edition will heute noch einen Gedichtband verlegen, überhaupt in ansehnlicher Ausstattung, gebunden und vielleicht sogar mit Lesebändchen? Das kauft doch niemand, heißt es in den Lektoraten geflissentlich. Vor allem die Zeitungen und das Fernsehen setzen die Schwierigkeiten erfolgreich fort. Die Rezension eines Lyrikbands ist eine aussterbende Rasse.
Gleichsam der Literaturpanda. Mehr als ein Quäntchen Verantwortung trifft die Buchhändler. Findet man in den belletristischen Supermärkten eine auf absoluter Sparflamme geführte Lyrikabteilung, dann ist es die allerkleinste Stiefkindnische, die man gerade noch nicht mit der Lupe suchen muss. Mehr als Goethe und Rilke wird man daraus nicht erwerben können. Morgen wird der Tag der Lyrik gefeiert, weshalb ich nachdrücklich anregen möchte, dass sich Betroffene besinnen und das Gedicht als gleichberechtigte Literaturgattung behandeln mögen.
U nsere Zeitungen sollten die Lyrikbände wenigstens so berücksichtigen, wie sie es andauernd mit zweit- oder drittklassigen Krimis machen. Liebe Leserin und lieber Leser! Gerade Sie können zur Gerechtigkeit für die Lyrik am besten beitragen! Lesen Sie jeden Tag ein Gedicht und kaufen Sie gelegentlich einen Lyrikband.
„Die Rezension eines Lyrikbandes ist eine aussterbende Rasse. In Buchhandlungen gibt es dafür die allerkleinste Stiefkindnische.“