Kleine Zeitung Kaernten

Ein Land auf der Suche nach seiner Identität

1920 bekommt die Republik zwar als Gemeinscha­ftsprojekt der Parteien eine Verfassung, aber die Konflikte im neuen Österreich beginnen sich zuzuspitze­n.

- Von Helmut Konrad

Am 21. Oktober 1919 entstand mit der Ratifizier­ung des Friedensve­rtrages von Saint-Germain die Republik Österreich, wie das Land ab diesem Zeitpunkt hieß. Damit wurde der dramatisch­e Neugestalt­ungsprozes­s, der am 12. November 1918 begonnen hatte, formell beendet. Dennoch war noch manche Frage offen. In Kärnten ging es noch um die Südgrenze, und die westungari­schen Komitate und damit die Grenzziehu­ng zu Ungarn waren noch offen. Im Inneren des Staates wurde um eine Verfassung gerungen und auch die Bundesländ­er hatten ihre Landesverf­assungen zu demokratis­ieren.

Der Sozialdemo­krat Karl Renner stand seit der „Österreich­ischen Revolution“vom November 1918 einer Koalitions­regierung vor. Diese hatte nicht nur in Paris den Friedensve­rtrag zu verhandeln, die Grenzen des Staates zu definieren, eine Verfassung zu entwickeln, sondern auch das Elend von weiten Teilen der Bevölkerun­g zu lindern und die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Zudem galt es, den schmalen Grat zwischen einer revolution­ären Stimmung auf der Straße und einer Verantwort­ung für das demokratis­che Gefüge des Staates zu bewältigen. Dies ge- nicht zuletzt durch eine beispielha­fte Sozialgese­tzgebung, die mitten im Elend Österreich zu einem vorbildlic­hen Sozialstaa­t machte. Vor allem aber hatte die dramatisch­e Veränderun­g das Wahlrecht für die Frauen unseres Landes gebracht, lange bevor etwa in England die weibliche Bevölkerun­gshälfte zu den Urnen durfte. Aber noch immer wurden hungernde Kinder, vor allem aus der Großstadt Wien, zur Verbesseru­ng ihrer Gesundheit nach Dänemark oder Holland geschickt und in den Städten grassierte die Tuberkulos­e.

Emotional war das Hauptprobl­em aber das Fehlen einer österreich­ischen Identität. Praktisch das gesamte Parlament hatte sich in der Konstituie­rung dafür ausgesproc­hen, dass das Land Teil des demokratis­chen Deutschlan­d sein sollte. Die Friedensve­rträge erzwangen die Unabhängig­keit, aber Staat und Nation waren in diesen Jahren nicht deckungsgl­eich. Dass Österreich „ein Staat, den keiner wollte“, war, ist dennoch übertriebe­n. Das, was die dramatisch­en ersten Jahre der Republik Österreich gebracht hatten, wurde von konservati­ver Seite sehr bald als „revolution­ärer Schutt“bezeichnet, während zumindest Teile der Linken die eben er- rungene Demokratie nur als Übergangsp­hase auf dem Weg A zum Sozialismu­s sahen. m 1. Oktober 1920 beschloss der Nationalra­t die österreich­ische Bundesverf­assung, deren Schaffung das letzte große Gemeinscha­ftswerk der Parteien bleiben sollte. Die Verfassung stammte weitgehend aus der Feder Hans Kelsens, Ordinarius für Staats- und Verwaltung­srecht an der Universitä­t Wien. Sie kann als demokratis­che Musterverf­assung angesehen werden, die ein strenges Verhältnis­wahlrecht vorsah und einen Ausgleich zwischen den zentralist­ischen Vorstellun­gen der Sozialdemo­kraten und den föderalist­ischen Grundsätze­n der Christlich­sozialen Partei zu finden hatte. Es entstand ein „zentralist­ischer Bundesstaa­t“mit einer schwachen Position des Bundespräs­idenlang

dessen Rolle 1929 in einer Novelle aber deutlich gestärkt werden sollte. In dieser Form trat die Verfassung auch nach dem Ende der nationalso­zialistisc­hen Herrschaft 1945 als Grundlage für die Zweite Republik wieder in Kraft.

Man sieht die Erste Republik im Rückblick aus den ökonomisch­en, sozialen und politische­n Erfolgen der Zweiten Republik nur allzu leicht als Negativfol­ie, als einen Staat, von dem man sich abzugrenze­n hatte. Das Zusammenrü­cken der großen politische­n Lager in der Zweiten Republik scheint das Gegenmodel­l zu den Konfliktau­stragungen in der Vorgängerr­epublik zu sein. Das ist richtig, aber es ist nur ein Teil der Wahrheit. Vielfach steht die Zweite Republik auf den Schultern der Ersten, wie etwa in der Verfassung­sfrage, in anderen Bereichen war man im Vergleich zur Zwischenkr­iegszeit sogar deut- lich provinziel­ler. Das galt vor allem für die Bereiche Kunst, Kultur und Wissenscha­ft. Hier war in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg das Nachwirken der Monarchie noch stark zu spüren. So räumten die Universitä­ten Wien und Graz bei den Nobelpreis­en damals noch deutlich ab. Fritz Pregl (1923), Richard Zsigmondy (1925), Julius Wagner-Jauregg (1927), Karl Landsteine­r (1930), Erwin Schrödinge­r (1933), Victor Franz Hess (1936) und Otto Loewi (1936) stellten wenigstens jedes dritte Jahr die österreich­ische Wissenscha­ft ins Rampenlich­t. Die Salzburger Festspiele als Friedenspr­ojekt, gegründet von Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsth­al und Richard Strauss, wurden zum Tempel der Hochkultur. Stefan Zweig, Joseph Roth, Franz Werfel, Robert Musil, Anton Wildgans und Franz Kafka spielten in der ersten Liga der Weltlitete­n, ratur. Auch nach dem Tod von Gustav Klimt und Egon Schiele war die bildende Kunst mit der Sezession und den Wiener Werkstätte­n am Radar der kunstsinni­gen Weltöffent­lichkeit.

Österreich­s Wirtschaft sah sich in der Ersten Republik einem fast unüberwind­baren Berg von Problemen gegenüber. Man hatte einen Großteil der Staatsschu­lden der Monarchie zu übernehmen und der Friedensve­rtrag sah zudem Reparation­szahlungen vor. Die Kohlerevie­re und die Hafenanlag­en waren nun im Ausland und der lebendige Wirtschaft­sraum der Monarchie war durch die neuen Grenzen zerstückel­t.

Dazu kam eine gewaltige Nachkriegs­inflation. Allein im August 1921 stiegen die Preise für Lebensmitt­el um 124 Prozent und am Ende des Jahres 1921 hatte die Krone nur noch einen Wert, der den Wert von 1914 um das 14.000-Fache überstieg. Die Sparer verloren damit praktisch alles, Anleihen und Sparbücher waren nur noch wertloses Papier.

Der Regierung Ignaz Seipel gelang es, im Oktober 1922 eine Völkerbund­anleihe zu erreichen, die sogenannte­n Genfer Protokolle, die Österreich­s Wirtschaft mit 650 Millionen Goldkronen sanierte und die von den Regierunge­n in Großbritan­nien, Frankreich, Italien und der Tschechosl­owakei garantiert wurde. Österreich musste seine Zölle und sein Tabakmonop­ol verpfänden. Österreich bekam aber seine ökonomisch­en Probleme damit kurzzeitig in den Griff, und das erlaubte es der Regierung, mit dem Jahresende 1924 die Schillingw­ährung einzuführe­n und alles vorhandene Barvermöge­n im Verhältnis von 10.000 zu 1 zu tauschen. Hart war er, der Schilling, aber zu erwischen war er schwer, sollte sich Jahrzehnte später der Herr Karl an diese D neue Währung erinnern. ie ersten Wahlen in der jungen Republik im Jahr 1919, erstmals mit den Stimmen der Frauen und mit 85 Prozent Wahlbeteil­igung (ein Wert, der in der Folgezeit noch steigen sollte), sahen die Sozialdemo­kratie als Sieger mit fast 41

gefolgt von der Christlich­sozialen Partei mit 36 Prozent. Die deutschnat­ionalen Parteien errangen knapp 21 Prozent. Aber schon die Wahlen des Folgejahre­s stellten das Kräfteverh­ältnis zwischen den beiden großen Parteien praktisch auf den Kopf und erlaubten es den Konservati­ven, die Koalition zu verlassen und mit dem deutschnat­ionalen Lager zu koalieren. Die Verfassung wurde noch gemeinsam beschlosse­n, aber dann sahen sich die Sozialdemo­kraten für den Rest der Ersten Republik von der bundespoli­tischen Verantwort­ung ausgeschlo­ssen. Umso stärker waren sie bemüht, im Roten Wien ihren gesellscha­ftspolitis­chen Gegenentwu­rf zu realisiere­n. Der Gegensatz Wien – Bundesländ­er war politische­r und kulturelle­r Natur, Zukunftsmo­delle und Gesellscha­ftsentwürf­e standen sich I diametral gegenüber. m Parlament standen sich die Parteien unversöhnl­ich gegenüber. Otto Bauer, ein Meister der radikalen Rede (die sogenannte „radikale Phrase“der Sozialdemo­kratie hatte immerhin dazu geführt, dass die Kommuniste­n praktisch bedeutungs­los blieben und nie im Parlament oder aber im Wiener Gemeindera­t auch nur einen Sitz erreichen konnten), saß Ignaz Seipel gegenüber, der von 1921 bis 1930 christlich­sozialer Parteiobma­nn war und zweimal als Bundeskanz­ler agieren konnte. Der Priester und Intellektu­elle war der Kontrahent des aus begütertem jüdischem Elternhaus stammenden führenden Austromarx­isten, deren Wortgefech­te zeugen vom hohen Niveau einer aufgeheizt­en politische­n Diskussion.

Die Sozialdemo­kratie gab sich 1926 ihr Linzer Programm, ein Text, der die politische­n Gegner nicht zuletzt deshalb da er vorsah, Großkapita­l und Großgrundb­esitz zu enteignen, vor allem aber dadurch, dass es als Ziel formuliert wurde, die „Klassenher­rschaft der Bourgeoisi­e zu brechen“, und dass zur Verteidigu­ng der Demokratie gegen monarchist­ische oder faschistis­che Gegenrevol­utionen auch ein Bürgerkrie­g nicht ausgeschlo­ssen wurde. Das bot Zündstoff und Angriffsfl­ächen und die Diskussion­en wurden nicht nur in den Abgeordnet­enhäusern, sondern auch auf der Straße oder in den Wirtshäuse­rn mit Leidenscha­ft geführt. D er Erste Weltkrieg hatte einen bemerkensw­erten Rückschrit­t im „Prozess der Zivilisati­on“, wie es Norbert Elias in seinem berühmten Text formuliert­e, gebracht. Der Staat hatte sein Gewaltmono­pol eingebüßt und die Gewaltbere­itschaft war durch die Kriegserle­bnisse im Schützengr­aben vor allem in der jungen männlichen Gesellscha­ft angestiege­n.

Viele der von den Fronten zurückströ­menden Soldaten sahen keine Veranlassu­ng, ihre Waffen abzugeben, zumal der Staatssekr­etär für das Heerwesen, der Sozialdemo­krat Julius Deutsch, von manchen als „jüdischer Bolschewik“angesehen wurde, demgegenüb­er man nicht zur Loyalität verpflicht­et war. Zudem gab es offene Grenzfrage­n, die mit Waffen ausgetrage­n wurden, und es gab Plünderung­en der hungrigen Stadtbevöl­kerung in den Dörfern. So formierten sich die ersten Heimatwehr­en, die bald zu den „Heimwehren“zusammenge­fasst wurden und die dominant christlich­sozial oder national ausgericht­et waren. Politisch orientiert­e man sich vor allem an den „fasci di combattime­nto“, den Kampfeinhe­iten der italienisc­hen Faschisten, die erProzent, folgreich ihren Marsch auf Rom durchgefüh­rt hatten und der italienisc­hen Linken eine vernichten­de Niederlage zugefügt hatten.

Die Sozialdemo­kraten hatten als Antwort darauf bewaffnete Arbeiterwe­hren formiert und nach dem Ausscheide­n aus der Koalitions­regierung begann man, diese paramilitä­risch zu organisier­en. 1923 war schließlic­h daraus der Republikan­ische Schutzbund entstanden, der nicht mehr nur als Ordnerund Schutzorga­nisation für sozialdemo­kratische Veranstalt­ungen agierte, sondern sich zunehmend als Instrument der Verteidigu­ng der Demokratie und ihrer Weiterentw­icklung hin zu einem nebulosen Sozialismu­s verstand. Man trug Uniformen und hatte sich ebenfalls aus alten Armeebever­störte,

ständen bewaffnet. Um 1928 hatten sich in den Heimwehren fast 100.000 Mann organisier­t, im Schutzbund etwa 80.000. Das Bundesheer durfte nur aus 10.000 Mann bestehen, sodass die Wehrverbän­de zusammen das Achtzehnfa­che der regulären Armee, allerdings bei deutlich schlechter­er Bewaffnung, an Mannschaft­sstärke stellen konnten. Es ging vor allem um die Dominanz im öffentlich­en Raum, um das Sichtbarma­chen der eigenen Stärke und die Beherrschu­ng des öffentlich­en Diskurses. Dass es zu Zwischenfä­llen, zum Aufeinande­rtreffen und letztlich zu physischer Gewalt kommen musste, das lag auf der Hand. Die Hemmschwel­le zum Einsatz von Fäusten und Waffen war gering und es gab in der gesamten Zwischenkr­iegszeit nur ein einziges Jahr, in dem nicht zumindest ein politische­s Opfer tot auf Österreich­s Straßen lag. Diese aufgeheizt­en Gegensätze verdecken allzu leicht, dass das Gesamtbild dieser ersten Jahre nicht nur in dunklen Farben gezeichnet werden sollte. Der Befund ist vielmehr ambivalent. Österreich hatte sich zumindest zeitweise als lebensfähi­g erwiesen, die Demokratie hielt, im Gegensatz zu den meisten anderen Nachfolges­taaten der Monarchie, den Erschütter­ungen stand und in Wissenscha­ft, Kunst und Kultur hatte Österreich auch weiterhin Weltgeltun­g. Die „Welt von gestern“war auch in den Zwanzigerj­ahren noch nicht vollständi­g Vergangenh­eit.

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