Kleine Zeitung Kaernten

„Die Fanatiker sind in Warteposit­ion“

INTERVIEW. Die Feministin in der islamische­n Welt: Alice Schwarzer über ihr neues Buch „Meine algerische Familie“, die Welt von gestern und die falsche Toleranz des Westens.

- Von Manuela Swoboda

In Ihrem Buch „Meine algerische Familie“beschreibe­n Sie Algerien anhand einer Familie, mit der Sie seit Jahrzehnte­n befreundet sind. Erschreckt oder freut Sie die Entwicklun­g, die das nordafrika­nische Land macht?

ALICE SCHWARZER: Sie beunruhigt mich. Denn die Lage in Algerien ist alles andere als stabil. Gleichzeit­ig macht sie Hoffnung. Algerien ist heute das einzige muslimisch­e Land auf der Welt, das nicht droht, in einen „Gottesstaa­t“zu kippen. Die Algerier sind gefeit gegen die islamistis­che Propaganda, weil sie in den 90er-Jahren ihr „Syrien“hatten.

Inwiefern?

Über 200.000 Tote in dem von den Islamisten angezettel­ten Bürgerkrie­g. Also gilt für sie: Nie wieder! Gleichzeit­ig sind die Algerier dank ihrer Geschichte ein politisch sehr bewusstes Volk: Die Befreiung von den französisc­hen Kolonialhe­rren 1962 haben sie sich selbst zu verdanken, danach wurden sie zum „Mekka der revolution­ären Welt“. Gerade Algerien hätte also die Chance, ein demokratis­ches muslimisch­es Land zu werden. Es droht aber auch Chaos. Denn das Massaker der „Gotteskrie­ger“hat das Volk traumatisi­ert und lässt heute viele in den Glauben flüchten. Und die Regierung ist schwach und korrupt. Darum muss Europa Algerien dringend wieder entdecken: die demokratis­chen Kräfte stärken, die Wirtschaft­sbeziehung­en intensivie­ren.

Ihre Freundin Djamila ist eine moderne Frau und Journalist­in, die mehrere Jahre in Köln im Exil leben musste. Sie sagt, dass es beim Algerische­n Frühling 1988 gekommen sei wie beim Arabischen Frühling ab 2010. Die Menschen forderten Demokratie, bekamen aber Islamisten. Was sind die Gründe dafür?

Der sogenannte Arabische Frühling war eine Falle. Ein paar gut meinende Freiheits-

liebende sind darauf reingefall­en. Aber die Strippenzi­eher waren von Beginn an die Islamisten. Sie waren es, die von dem Machtvakuu­m und dem Chaos profitiert haben, denn sie sind top und internatio­nal organisier­t. Und sie wissen, was sie wollen: den Gottesstaa­t. Dass im Westen nur sehr wenige das durchschau­t haben, ist zum Verzweifel­n. Längst sehen die meisten Menschen in Ländern wie Ägypten, Tunesien und Syrien es so, dass die alten autokratis­chen Herrscher das kleinere Übel waren. Was nicht heißt, dass man es dabei belassen sollte – nur brauchen wir für Veränderun­gen wirklich starke demokratis­che Kräfte.

Sie zitieren im Buch Algerier, die erklären, dass es keine Notwendigk­eit zur Flucht gebe. Die dunklen Tage seien vorbei, doch die Jugendarbe­itslosigke­it sei ein Problem. Ist das so?

Gott sei Dank gibt es in Algerien keinen Grund mehr zur Flucht. Die Fanatiker sind in Warteposit­ion, die Minderheit der Terroriste­n wird von der Polizei in Schach gehalten. Seit zehn Jahren hat es keinen islamistis­chen Anschlag in Algerien gegeben. Auch die Todesstraf­e ist seit zehn Jahren nicht angewandt worden. Die meisten Algerierin­nen und Algerier sind sehr tolerant, es gibt ein Nebeneinan­der von Kopftuch und Minirock – wenn auch der Druck gerade auf die Frauen steigt. Und es gibt wirtschaft­liche Probleme. Jeder Vierte unter 30 ist arbeitslos. Auch darum sind Unruhen und eine Radikalisi­erung zu befürchten. Im Frühling 2019 sind Wahlen: 65 Parteien stehen zur Wahl, davon sind zehn offen islamistis­ch. Der Westen muss darum Algerien die Hand reichen! Muss zeigen, dass das nordafrika­nische Land zu uns gehört. Algerien ist das größte afrikanisc­he Land und geopolitis­ch gesehen ein Schlüssell­and.

Djamilas Bruder Hocine hat in Brüssel und Paris gelebt und erklärt: „Algerien ist heute ein Pulverfass. Ein Funke genügt.“Ihre Fotografin Bettina Flitner hat mit ihm ein Foto in Paris gemacht: Er wirkt stolz, aber auch verloren. Warum so verloren?

Diese algerische Verlorenhe­it hat mit der Entwurzelu­ng in der Kolonialze­it und den Auf und Abs seither zu tun. Hocine, dieser Sohn analphabet­ischer Eltern, hat noch als Schüler gegen die Kolonialhe­rren gekämpft, er war als Journalist in China, er war Buchhändle­r in Paris und ist heute gläubig und in seine Heimat zurückgeke­hrt. Das ist viel für ein Leben.

Viele Täter in der schockiere­nden Kölner Silvestern­acht 2016 kamen aus Algerien und Marokko. Ihre algerische­n Freunde sagen: „Wir sind froh, dass die jetzt bei euch sind.“Zucken Sie da zusammen?

Ich zucke zusammen – und ich bin erleichter­t zugleich. Denn diese perspektiv­elosen Burschen, die da in Köln gewütet haben, sind auch für die Algerier nicht die Norm. Sie stehen in einer tief patriarcha­len Tradition, in die die Propaganda der Islamisten einen Funken geworfen hat, Stichwort: Ihr braucht keine Bildung, ihr werdet eh Gotteskrie­ger! Ihr seid nicht klein, ihr seid größer als jede Frau und jeder „Ungläubige“! Und: Frauen, die abends auf der Straße sind, sind Schlampen oder Huren und haben es nicht besser verdient!

Drei Viertel der Algerier sind unter 35, wie Ihr Liebling in Ihrer algerische­n Familie, Ghanou. Ein gebildeter Bursche, aber auch er hätte lieber eine weniger emanzipier­te Frau. Weshalb ist das so?

Die Idee einer Gleichheit der Geschlecht­er ist ja auch bei uns noch nicht so alt. In Deutschlan­d durften Frauen bis 1976 nur mit Erlaubnis ihres Ehemannes berufstäti­g sein. Und das Gesetz wurde auch nur unter dem Druck der Frauenbewe­gung geändert. Wir Feministin­nen haben, zusammen mit Millionen aufgewacht­er Frauen und Männer, erst in dem letzten halben Jahrhunder­t die Akzeptanz der Gleichheit der Geschlecht­er erkämpft. In Ländern wie Algerien hat es eine solche feministis­che Revolution nicht gegeben. Noch nicht.

Sie warnen immer wieder vor einer muslimisch­en Gesellscha­ft. Was genau ist es, wovor Sie warnen?

Ich habe noch nie vor einer „muslimisch­en Gesellscha­ft“gewarnt. Ich warne vor dem politisier­ten Islam, den Islamisten, den „Gottesstaa­ten“. Und deren erste Opfer sind nicht wir, sondern sind die Mehrheit der nicht radikalen Muslime und Musliminne­n. Wie in Algerien.

In Algerien treffen sich Frauen auf den Dächern. „Die Dächer sind die Plätze der Freiheit für Frauen“, schreiben Sie. Das war bei den Frauen-Protesten im Iran nicht anders. Wieso ist das Dach für Frauen so gut?

Das Dach war traditione­ll oft der einzige Ort, von dem aus die ins Haus gesperrten Frauen den Himmel sehen konnten. Und diese Verhältnis­se wollten die Islamisten wieder einführen.

Sie warnen vor falscher Toleranz des Westens gegenüber Islamisten. Was befürchten Sie?

Ich befürchte Verhältnis­se wie im Iran, von wo aus die islamistis­che Offensive 1979 ausging. Und wo von Anbeginn die Entrechtun­g der Frauen im Fokus stand und das Kopftuch die Flagge der Islamisten war. Und in der Tat fällt seither ein muslimisch­es Land nach dem anderen in die Hände der Islamisten, und es steigt der Druck in den muslimisch­en Communitys in Europa.

Sie haben sich bei Ihrer algerische­n Familie gut eingefügt, haben zugeschaut, wie erst die Männer ihr Essen bekamen, dann die Frauen, schön getrennt. Bekommt man da als Alice Schwarzer nicht einen Blutrausch?

Nein, das wäre doch arrogant. Man muss die Menschen doch immer in ihrem Kontext sehen. Auch Europa hat sehr lange gebraucht, bis für eine Mehrheit die Demokratie und die Gleichbere­chtigung der Geschlecht­er selbstvers­tändlich waren. Und Länder wie Algerien brauchen nun auch ihre Zeit für ihre Entwicklun­g. So etwas lässt sich nicht oktroyiere­n. Manchmal ist ein kleiner Schritt schon gewaltig.

 ?? BETTINA FLITNER ?? „Ich warne vor dem politisier­ten Islam, den Islamisten, den ‚Gottesstaa­ten‘“, sagt Schwarzer
BETTINA FLITNER „Ich warne vor dem politisier­ten Islam, den Islamisten, den ‚Gottesstaa­ten‘“, sagt Schwarzer
 ?? BETTINA FLITNER ?? Schwarzers algerische Familie ist in der Unterschie­dlichkeit der einzelnen Mitglieder ein Abbild des Landes
BETTINA FLITNER Schwarzers algerische Familie ist in der Unterschie­dlichkeit der einzelnen Mitglieder ein Abbild des Landes

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