Die Bierwampe
Von Franzobel
Mein siebenjähriger Sohn ist beunruhigt. Nicht über den Zustand des Wohlfahrtsvereins Austria, dem er unsinnigerweise anhängt, der Verräter, auch nicht über Kartenhäuser der Skispringer, die nach jedem Sprung darauf aufbauen wollen, oder den Zustand der Welt allgemein, sondern über Marcel Hirscher. Was, wenn es Österreichs erfolgreichstem Skifahrer (aller Zeiten?) einfällt, die Ski in den Keller zu stellen, die Skischuhe als Flaschenhalter für erlesene Rotweine zu benützen und den Rennanzug an den Nagel zu hängen, um es sich mit seinen siebzehn Weltcupkugeln bequem zu machen?
Österreich bliebe auch ohne Marcelator Skination Nummer eins, aber die Zahl der Weltcupsiege ließe sich dann an einer Hand abzählen. Vom Gewinn des nächsten Gesamtweltcups wären wir so weit entfernt wie Timbuktu von Tirol, unser Skiteam mit einem Schlag nur noch eine Masse von Platzierungsfahrern. un kann sich mein Sohn naturgemäß überhaupt nicht vorstellen, wie jemand, der mit traumwandlerischer Sicherheit Rennen um Rennen gewinnt, ans Aufhören auch nur denken mag. Macht ihm denn das Siegen keinen Spaß mehr? Ja, antworte ich dann, aber er hat eben schon alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Zu viel. Und wie kann man ihn zum Weitermachen bewegen? Ja wie? Man könnte ihn provozieren, ihm sagen, er sei eigentlich bereits zu alt, könne nicht mehr lange mithalten mit Zornbinkerl Kristoffersen. Vielleicht würde ihn das motivieren? Er könnte aber auch versuchen, Ingemar
NStenmarks 86 Weltcupsiege zu überbieten. Oder er investiert ins Abfahrtstraining, um der kompletteste Skifahrer ever zu werden? ür unsereinen ist es kaum vorstellbar, wie viel Zeit ein Hirscher opfert: Trainings, Materialtests, Reisen, Rennen, Pressetermine. Ein Leben für den Skisport. Da kann man schon verstehen, dass er irgendwann sagt, jetzt reicht’s. Wozu? Und dann?
Auswandern? Vielleicht New York? Australien? Das Leben genießen, surfen, Hummer essen, Hummer fahren, Naturschutzgebiete durchwandern, Malen, Golf, Motorrad? Auch das wird irgendwann fad. Dann wird er nach Ergebnissen der Skirennen suchen und von einer wehmütigen Melancholie gepackt werden. Neue Herausforderungen? Zu Fuß zum Südpol? Paris–Dakar? Schließlich kommt noch etwas dazu, etwas, was nicht zu unterschätzen ist, weil Erfolg auch süchtig macht: nicht mehr dauernd auf den Titelseiten, im Fernsehen nur noch in den Seitenblicken, kaum noch Interviews, ein schwarzes Loch. eitertrainieren, hat Hirscher gesagt, wolle er in jedem Fall, weil er sich nicht vorstellen könne, „einmal mit einer Bierwampe dazuhocken“. Da kann er eigentlich auch weiter Rennen fahren, am besten so lange, bis er mehr Weltcupkugeln hat als der Federer Grand-Slam-Pokale. Das freut dann nicht nur meinen Sohn, sondern die ganze Skination. Bierwampe sei Dank.
FWFranzobel, 1967 in Vöcklabruck geboren, ist Schriftsteller und Sportfan.