Hubert Patterer über Sinn und Aufgabe eines Gedenkjahres.
Achtzig Jahre nach dem „Anschluss“: Das Gedenken sollte auch eine Einladung sein, die eigenen Abwehrkräfte einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Nicht einmal eine Lebensspanne ist es her, dass Österreich von der Landkarte verschwand und in der Diktatur des Deutschen Reiches aufging. Die schicksalhaften Tage jähren sich zum 80. Mal. Sie markieren den Beginn einer abgründigen, beispiellosen Blutherrschaft, der Abermillionen durch Krieg, Verfolgung und Massenmord zum Opfer fielen.
Es gibt viele Zeugnisse über den „Anschluss“, eines der eindrücklichsten stammt von der jungen Ingeborg Bachmann. Der Einmarsch der HitlerTruppen in Klagenfurt sei so entsetzlich gewesen, dass „meine Kindheit zertrümmert wurde“. Mit jenem Tag habe ihre Erinnerung begonnen.
Es waren wenige, die so empfanden. Zahllose standen Spalier und jubelten den neuen Machthabern zu, viele auf Geheiß, viele erwartungsfroh aus freien Stücken. In unserer Serie versuchen wir zu ergründen, wie es geschehen konnte, dass so viele dem Hass, dem Rassenwahn und dem nationalistischen Furor verfielen. Das Antisemitische, das Deutschnationale: Verstörend bleibt, wie früh sich der Ungeist in den Staat und in die Köpfe gebohrt hatte. Der Schoß war fruchtbar schon, als die Heilskünder mit der Binde einzogen.
Erinnerung kann ein SichWiederholen nicht ausschließen, aber das Vergegenwärtigen kann das Wachsein frisch halten. Es nimmt das Leid der Opfer in den Blick und soll das Augenmerk auf jene Faktoren legen, die in ihrem unheilvollen Zusammenwirken Vernunft und Moral außer Kraft setzten, die Massen blendeten und diese für den Zivilisationsbruch empfänglich machten. Der schwache Glaube an die junge, weitgehend entdemokratisierte Republik; Not und Bedrängnis und die Feindbilder als Sündenböcke; der Erlösergestus der neuen Götter; das rauschhafte Wir; die Illusion einer neuen Zeit; das Aufgehen des Einzelnen in einem größeren Ganzen, der Gemeinschaftsmythos, der das Gewissen dem Kollektiv über- trug; das Sich-selbst-Erheben um den Preis der Erniedrigung anderer; die Sprache, die der Trunkenheit zuarbeitete: All das verschmolz zu einem düsteren, toxischen Amalgam.
In derselben Konsistenz wird es nicht wiederkehren, aber jedes einzelne dieser Versatzstücke hat das Potenzial zum Gegenwärtigen: Das Feindbild, das Erlöserhafte, das Autoritäre, der hetzerische Sog der Masse, das Sich-eins-Setzen mit dem Volk, die Schmähung der „Lügenpresse“vor deren Gleichschaltung, das Mitläufertum, das Deutschtümeln, all das ist nichts Unvertrautes und hat die Kraft, eine Demokratie von innen zu zersetzen. Die bleibt gefährdet wie der Einzelne selbst. Nicht um rückwärtsgewandtes wohlfeiles Anklagen geht es, sondern um kritische Anfragen an sich selbst: Wo denkt man eigenständig und nicht im Strom der anderen? Wie steht es um Mut und Courage, wo anderen Unrecht widerfährt? Wann erhebt man die Stimme, und was darf es kosten?
Diese Fragen gehören in den Anhang des Gedenkjahrs. Sonst bleibt die Erinnerung feierliche Routine und Bildungsfunk.