Höchste Zeit für radikale Brüche
Die 21. Diagonale in Graz ist eröffnet. Zum Auftakt sprachen sich die Intendanten gegen politischen Opportunismus aus. Kommt nun Kommission zur Aufarbeitung der Nachkriegszeit?
Von Ute Baumhackl und
Julia Schafferhofer
Es war eine hochpolitische Eröffnungsfeier. Nicht nur wegen des brisanten Films von Christian Frosch. „Murer – Anatomie eines Prozesses“rollt mit der Rekonstruktion des Prozesses gegen den Nazi-Schergen Franz Murer einen der größten Justizskandale der Zweiten Republik auf. 1963 wird in Graz jener Mann freigesprochen, der für den Tod Zehntausender Juden in Litauen mitverantwortlich ist und den Überlebende „Schlächter von Wilna“nennen.
„Wenn wir Sie heute Abend begrüßen, dann tun wir das in jenen Tagen, in denen des sogenannten ,Anschlusses‘ an Hitlerdeutschland vor 80 Jahren gedacht wird“, schickten die Diagonale-Intendanten Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger bei ihrer Rede in der voll besetzten Helmut-List-Halle in Graz voraus. Gerade vor diesem Hintergrund mutete es umso seltsamer an, dass sich kein einziger Vertreter der Bundesregierung zum Festivalauftakt nach Graz bemüht hatte.
Festival
des österreichischen Films. Insgesamt stehen 167 Produktionen, 103 laufen im Wettbewerb.
gibt es auch das historische Special „Kein schöner Land“, das einen Blick in die Provinz wirft. Zum Rahmenprogramm gehören auch die Reihen „Zum Kollektiv: Filmladen“und „In Reverenz“mit einer Ausstellung und Dokumentationen.
online, im Grazer Kunsthaus sowie ab heute in den Festivalkinos.
Neben dem Wettbewerb
Tickets
diagonale.at
Froschs Rekonstruktion der damaligen Stimmung, so die beiden Intendanten, mache augenfällig, dass der radikale Bruch mit dem Denken, das zum Holocaust führte, hierzulande ausblieb. Umso dringlicher sei heute die Kritik an antidemokratischen und antilibera- len Tendenzen, seien „Haltung, Argumente und Meinungspluralismus wider den widerwärtigen Opportunismus“.
Ingrid
Burkhard
wurde mit dem Großen Diagonale-Schauspielpreis geehrt. Die 86-jährige Film-, Fernseh- und Theaterschauspielerin mahnte in ihrer Dankesrede zur Wachsamkeit angesichts wachsenden Rechtspopulismus und brach eine Lanze für den ORF: „Das darf uns nicht passieren, dass uns nicht eine öffentlich-rechtliche Institution die Wahrheit sagt, Herrgott noch einmal!“Zur Wachsamkeit mahnte auch Regisseur Christian Frosch – mit der Paraphrase auf ein bekanntes Diktum Hannah Arendts: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen, es hat aber auch kein Mensch das Recht, nicht zu wissen.“Vielleicht lässt sich das ja als erste Reaktion darauf lesen: Der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer fordert aus aktuellem Anlass eine überparteiliche internationale Kommission, um die Vergangenheit von Republik, Parteien und Institutionen aufzuarbeiten. Zeit wär’s.