Die widrigen Umstände – wie wir wirklich sind
Es gibt ein psychologisches Phänomen, das so grundlegend und verbreitet ist, dass es Teil seiner Bezeichnung wurde: der „fundamentale Attributionsfehler“. Attribution ist die Zuschreibung von Ursachen.
Der fundamentale Attributionsfehler besagt, dass wir die Ursachen für das Verhalten anderer gerne auf deren Persönlichkeit zurückführen, während wir für unser eigenes Verhalten oft situative Umstände geltend machen – auch in der Erklärung vor uns selbst. Ein anderer hat in einer (leichten) Notsituation Hilfe unterlassen? Der ist eben so, ein Charakterschwein, wir haben’s ja immer gewusst. Wir selber unterlassen Hilfe? Das waren die widrigen Umstände, wir waren gerade schrecklich in Eile, garstige Sachzwänge haben uns gehindert. Dieser stabile Zuschreibungsunterschied rührt daher, dass wir uns selbst gut zu kennen glauben und ein bestimmtes (Ideal-)Bild von uns pflegen. Verhalten wir uns in einer Weise, die dem nicht gerecht wird, dann ist das den Umständen geschuldet. Vom Verhalten anderer hingegen ziehen wir gnadenlos Rückschlüsse auf deren Charakter. Das ist meist stark übertrieben: „Gelegenheit macht Diebe“; gute und schlechte Züge sind alles andere als situationsinvariant.
Wir verallgemeinern diesen Attributionsfehler sogar auf ganze Gruppen und können dabei, je nach Perspektive, in Windeseile wechseln. Fahren wir mit dem Auto, finden wir „diese Radfahrer“unmöglich: bremsfaul, regelüberschreitend, schlecht beleuchtet und irgendwie im Weg. Steigen wir tags darauf aufs Rad um, sind plötzlich die Autofahrer unerhört: rücksichtslose Rüpel allesamt, in ihren Blechburgen.
P erspektivenwechsel – die Welt durch die Augen des anderen zu sehen – fällt uns also erstaunlich schwer. So entstehen sogar kriegerische Konflikte; man muss dafür nicht gleich Donald Trump versus Kim Jong-un bemühen. Nur mit uns selbst sind wir notorisch nachsichtig. Unsterblich hat das Ödön von Horváth in seinem Stück „Zur schönen Aussicht“auf den Punkt gebracht: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“
„Perspektivenwechsel – die Welt durch die Augen des anderen zu sehen – fällt uns erstaunlich schwer.“