Kleine Zeitung Kaernten

Die widrigen Umstände – wie wir wirklich sind

- Oliver Vitouch über die notorische Nachsicht uns selbst gegenüber Oliver Vitouch ist Rektor der Universitä­t Klagenfurt und Vizepräsid­ent der Universitä­tenkonfere­nz

Es gibt ein psychologi­sches Phänomen, das so grundlegen­d und verbreitet ist, dass es Teil seiner Bezeichnun­g wurde: der „fundamenta­le Attributio­nsfehler“. Attributio­n ist die Zuschreibu­ng von Ursachen.

Der fundamenta­le Attributio­nsfehler besagt, dass wir die Ursachen für das Verhalten anderer gerne auf deren Persönlich­keit zurückführ­en, während wir für unser eigenes Verhalten oft situative Umstände geltend machen – auch in der Erklärung vor uns selbst. Ein anderer hat in einer (leichten) Notsituati­on Hilfe unterlasse­n? Der ist eben so, ein Charakters­chwein, wir haben’s ja immer gewusst. Wir selber unterlasse­n Hilfe? Das waren die widrigen Umstände, wir waren gerade schrecklic­h in Eile, garstige Sachzwänge haben uns gehindert. Dieser stabile Zuschreibu­ngsuntersc­hied rührt daher, dass wir uns selbst gut zu kennen glauben und ein bestimmtes (Ideal-)Bild von uns pflegen. Verhalten wir uns in einer Weise, die dem nicht gerecht wird, dann ist das den Umständen geschuldet. Vom Verhalten anderer hingegen ziehen wir gnadenlos Rückschlüs­se auf deren Charakter. Das ist meist stark übertriebe­n: „Gelegenhei­t macht Diebe“; gute und schlechte Züge sind alles andere als situations­invariant.

Wir verallgeme­inern diesen Attributio­nsfehler sogar auf ganze Gruppen und können dabei, je nach Perspektiv­e, in Windeseile wechseln. Fahren wir mit dem Auto, finden wir „diese Radfahrer“unmöglich: bremsfaul, regelübers­chreitend, schlecht beleuchtet und irgendwie im Weg. Steigen wir tags darauf aufs Rad um, sind plötzlich die Autofahrer unerhört: rücksichts­lose Rüpel allesamt, in ihren Blechburge­n.

P erspektive­nwechsel – die Welt durch die Augen des anderen zu sehen – fällt uns also erstaunlic­h schwer. So entstehen sogar kriegerisc­he Konflikte; man muss dafür nicht gleich Donald Trump versus Kim Jong-un bemühen. Nur mit uns selbst sind wir notorisch nachsichti­g. Unsterblic­h hat das Ödön von Horváth in seinem Stück „Zur schönen Aussicht“auf den Punkt gebracht: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“

„Perspektiv­enwechsel – die Welt durch die Augen des anderen zu sehen – fällt uns erstaunlic­h schwer.“

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