„Wir stehen bei den Veränderungen erst am Anfang“
Kanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Heinz-Christian Strache nehmen für sich in Anspruch, in ihren ersten hundert Tagen bereits einen „Systemwechsel“eingeleitet zu haben.
Sie sind bald hundert Tage im Amt. Haben Sie sich das Regieren anders vorgestellt? Was war die größte Überraschung im neuen Amt?
SEBASTIAN KURZ: Um ehrlich zu sein, ich bin als Staatssekretär sehr unvorbereitet über Nacht in eine große Aufgabe hineingestolpert. Der Einstieg war damals für mich die Hölle. Beim Wechsel ins Außenministerium war ich in einer besseren Situation. Der Umstieg ins Bundeskanzleramt war der beste, weil ich am intensivsten vorbereitet war. Wenn ich auf die ersten hundert Tage zurückblicke, bin ich froh, was den Stil und den Umgang betrifft. Darüber hinaus haben wir umgesetzt, was wir versprochen haben. Unser Ziel ist es, die Steuerlast zu senken, mehr Sicherheit zu schaffen und nicht mehr auszugeben, als wir zur Verfügung haben. Der Kurswechsel ist eingeleitet.
Herr Strache, Sie haben den größeren Schritt gemacht, Sie waren jahrelang in der Opposition. Ist das jetzt ein Schock?
HEINZ-CHRISTIAN STRACHE:
Manche Vorgängerregierungen haben hundert Tage gebraucht, bis sie sich überhaupt gefunden haben. Wir haben in der Zeit bereits viele unserer Wahlversprechen auf die Reise gebracht.
Ist Regieren mit mehr Arbeit verbunden?
STRACHE: Das würde ich nicht sagen. Wenn man die Rolle als Oppositionspolitiker ernst nimmt, ist es immer mit Arbeit verbunden. Der Unterschied ist: Was man jahrelang vergeblich gefordert hat, kann man jetzt umsetzen. Es braucht natürlich ein paar Wochen, bis man alles beisammen hat. Da bin ich Perfektionist und so lange nicht zufrieden, bis erst alles auch wirklich funktioniert.
Sie haben beim Budget durchaus Pflöcke eingeschlagen. Sie haben allerdings nicht bei den Kostentreibern angesetzt, beim Zusammenwirken von Bund und Ländern, bei der Gesundheit. Kommt das alles noch nach den Landtagswahlen in Salzburg?
KURZ: Ich möchte Ihrer These ein wenig widersprechen. Wir haben ganz bewusst bei den Kostentreibern angesetzt, sonst hätten wir es nicht geschafft, erstmals die Schuldenpolitik zu beenden. Seit 1954 haben wir in Österreich immer mehr ausgegeben als eingenommen. Jetzt leiten wir einen Systemwechsel ein. Wir besetzen in allen Bereichen – außer bei der Sicherheit und Bildung – nur jede dritte Planstelle nach. Sie haben recht, es gibt es noch andere Reformvorhaben, die in den ersten hundert Tagen noch nicht möglich waren, etwa die Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger, die Reform des Sozial- systems oder des Asylwesens. Wir stehen bei den Veränderungen erst am Anfang.
STRACHE: Es gibt in der Regierung ein partnerschaftliches Miteinander statt ein Gegeneinander. Wir haben in den ersten hundert Tagen begonnen, Schritt für Schritt an den richtigen Schrauben zu drehen. Da muss man von einem großen Wurf reden. Wir gehen mit den Steuergeldern der Menschen hoch korrekt und sparsam um und handhaben es nicht wie in der Vergangenheit, nach dem Motto, was kostet die Welt. Wir machen keine neuen Schulden, wir entlasten die Menschen. Das sind die ersten großen Linien, nichts auf Pump. Wir müssen dann in einer sozialen, fairen Art und Weise bei der Pflege ansetzen, mehr Geld für die 24 Stunden Betreuung aufwenden. Wir müssen bei den Sozialversicherungsträgern eine Zusammenlegung im Interesse der
vornehmen. Die illegale Immigration gehört abgestellt, und wir müssen den Rechtsrahmen verändern. Wenn jemand straffällig wird, hat er sein Recht auf Asyl verwirkt und muss außer Landes gebracht werden.
Auch die Präsidentin des Rechnungshofs Margit Kraker mahnt große Reformen ein.
Das ist ja gut, wenn die Präsidentin das aufzeigt. Das ist auch ihre Aufgabe.
Krakers Vorgänger, Josef Moser, der jetzt in der Regierung sitzt, hat das in den letzten zwölf Jahren rund um die Uhr getrommelt.
Beide werden wohl erkennen, dass die Regierung erstmals seit 1954 keine neuen Schulden macht. Das ist das Unsozialste auf dem Rücken unserer Kinder und Enkelkinder. Die ersten hundert Tage sind erste Schritt gewesen, und jetzt geht es Schritt für Schritt weiter.
Es ist ein erster wichtiger Schritt, der 60 Jahre so nicht möglich war.
ÖVP-Finanzminister Schelling hat versprochen, 2018 wird die kalte Progression abgeschafft. Sie haben das nicht mehr vor. Warum nicht? In zwei Jahren wird der Familienbonus von der Progression komplett aufgefressen.
Wir haben unterschiedliche Ziele bei der Steuerentlastung. Die kalte Progression ist eines davon. Wir haben bewusst gesagt, wir wollen zunächst bei der Entlastung von Kleinverdienern und Familien ansetzen, dann folgen weitere Maßnahmen.
Mit dem Rückenwind einer wunderbaren Konjunktur?
Natürlich ist das ein Beitrag, aber wir hatten schon JahPatienten re mit besserer Konjunktur und trotzdem wurden Schulden gemacht.
Es hat in den letzten Jahrzehnten ja auch mehrmals Hochkonjunktur gegeben.
Herr Kurz, es fällt auf, dass Sie sich beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BVT) in Zurückhaltung üben. Sie waren ja nicht einmal bei der Sondersitzung im Parlament anwesend. Im Wahlkampf haben Sie eine Richtlinienkompetenz für den Kanzler gefordert. Sind Sie froh, dass Sie diese nicht haben?
Ich habe mich in der Frage nicht zurückgehalten, im Gegenteil. Vom Innen- und Justizminister wurde ich laufend informiert, und als Gerüchte aufgekommen sind, die zu einer Verunsicherung geführt haben, habe ich sofort vom Justizminister einen Bericht verlangt, der innerhalb von wenigen Tagen der Öffentlichkeit präsender tiert wurde. Ich war nicht im Parlament, ich habe den Nationalen Sicherheitsrat geleitet.
Der war aber erst anschließend, nach dem Nationalrat?
KURZ: Mir ist die schnelle Aufklärung aller offenen Fragen wichtig. Es gibt einige Beschuldigte im BVT. Wie bei jedem Österreicher gilt auch hier die Unschuldsvermutung. Wenn sich jemand etwas zuschulden kommen ließ, muss er verurteilt werden, wenn nicht, muss er schnell und zügig seinen Dienst wieder aufnehmen können.
Ist alles optimal gelaufen beim BVT?
STRACHE: Es gilt grundsätzlich die Unschuldsvermutung, aber es gibt auch den Verdacht des Amtsmissbrauchs. Zum Glück gibt es bei uns die Gewaltenteilung, und die Staatsanwältin hat aufgrund von Hinweisen entschieden, dass es Handlungsbedarf für eine Hausdurchsuchung gegeben hat.
War es nicht ziemlich übertrieben, mit 58 Mann da hineinzugehen? Hätte der Minister da etwas dezenter vorgehen können?
STRACHE: Das ist eine Frage der Staatsanwaltschaft und nicht des Innenministers.
Aber die Staatsanwaltschaft entscheidet ja nicht, mit wie viel Mann und mit welchen Leuten.
Die Staatsanwaltschaft entscheidet, ob es eine Hausdurchsuchung gibt, und nimmt dann Kontakt mit dem Innenministerium auf, um Begleitungsmaßnahmen zu setzen. Medial ist ja ein völlig falsches Bild gezeichnet worden, dass die Beamten mit Sturmmasken und Langwaffen agiert hätten. Es ist auch nicht so, dass Polizeibeamte dort Dinge gesichert hätten. Das hat die Staatsanwaltschaft mit ihren Beamten und Spezialisten gemacht.
Dass der Generalsekretär des Innenministeriums Zeugen nachnominiert hat, obwohl die Sache im Oktober erledigt war, ist ungewöhnlich.
Wenn sich Zeugen melden, egal ob beim Kanzler oder bei mir, leiten wir das natürlich an die Staatsanwaltschaft weiter. Wenn man als Amtsträger Hinweise auf Korruption erhält, muss man handeln. Wenn man das nicht tut, macht man sich straffällig.
Hat Generalsekretär Goldgruber da nicht nachgeholfen bei der Nominierung von Zeugen?
Nein, er hat sie, als sie sich bei ihm gemeldet haben, an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.
Muss das BVT umgebaut werden?
Ich kann jetzt nur den Innenminister zitieren, der gesagt hat, es werde notwendig sein, eine Evaluierung und Optimierung vorzunehmen.
Herr Kurz, Sie wollten eine Richtlinienkompetenz. Soll das BVT so bleiben, wie es ist?
Das Gerücht, dass der Innenminister die Geheimdienste zusammenführen möchte, stimmt nicht. Das würde ich auch nicht mittragen.
Sie haben gesagt, Sie wollen im System sparen, aber in einem Punkt haben Sie das nicht getan: bei der Installierung von Generalsekretären in den Ministerien. Warum tun Sie das?
Generalsekretäre sind kein Novum. Im Außen- oder im Finanzministerium gibt es welche, ich könnte Ihnen eine ganze Listen von Ministerien aufzählen, wo es welche gab.
Aber jetzt ist es flächendeckend.
KURZ: Ich war als Außenminister immer sehr glücklich, dass es Sektionschefs als oberste Beamte gibt, aber dass der Minister auch einen Generalsekretär hat, der so etwas wie der Leiter dieser Sektionschefs ist, finde ich eine richtige Entscheidung.
Sie sparen nicht im System, Sie blähen auf diese Weise das System auf.
Entschuldigung, aber das stimmt ja nicht. Das ist einfach so unrichtig. Wenn Sie sich die Mitarbeiterzahl anschauen, werden Sie feststellen, dass viele Kabinette in der Vergangenheit wesentlich aufgeblähter waren. Ein Ministerium muss auch geführt werden, und es ist sinnvoll, dass es noch einen obersten Beamten gibt, der mit dem Minister in dieselbe Richtung läuft und sicherstellt, dass, was politisch vereinbart ist, auch auf den Boden gebracht wird. In der Vergangenheit hatten wir oft das Problem, dass, was politisch ausgemacht wurde, in der Umsetzung verwaschen wurde.
STRACHE: Es geht um Effizienz. Der Generalsekretär soll dafür sorgen, dass politische Beschlüsse vom Ministerium umgesetzt und nicht verwässert werden. Am Ende werden wir daran gemessen, was wir umgesetzt haben.
Also misstrauen Sie doch der Beamtenschaft.
Nicht Misstrauen, es gibt aber unterschiedliche Systeme. In manchen Ländern ist es üblich, alle Spitzenbeamten auszutauschen. Wir haben ein gutes System mit einer Beamtenschaft, die die nötige Erfahrung mitbringt. Aber wir brauchen auch Verantwortungsträger, die umsetzen, was man beschließt.
KURZ: Herr Jungwirth, messen Sie uns an unseren Ergebnissen. Wir haben seit 60 Jahren in Österreich kein ausgeglichenes Budget zustande gebracht, wir schaffen das erste Mal eine Trendwende, also so falsch kann unser Weg, glaube ich, nicht sein.
Letzte Fragen zum ORF: Herr Strache macht sich für die Abschaffung der GIS-Gebühren stark. Herr Kurz, wird der ORFKonsument am Ende der Regierungsperiode weniger zahlen als heute?
Es gibt unterschiedliche Modelle in Europa, der Medienminister bereitet gerade eine Enquete vor. Es geht ja um mehr als nur um die Gebühren, etwa die Frage, wie wir die Medienvielfalt in unserem Land erhalten können, wie groß und stark ein öffentlich-rechtlicher Sender sein soll, der nicht in dem Ausmaß im Wettbewerb steht wie die Privaten. Das sollten wir unaufgeregt und sachlich diskutieren.
Es ist durchaus sinnvoll, den öffentlich-rechtlichen Bereich breiter aufzustellen. Vielleicht sollte man auch andere Medieneinrichtungen, die den öffentlich-rechtlichen Auftrag erfüllen, fördern. Meine Überzeugung war immer, man sollte über die Abschaffung der GIS-Zwangsgebühren nachdenken – in Kombination mit einem Bekenntnis zu einem öffentlichrechtlichen Sender, das ist der Unterschied zur Schweiz. Wenn wir die Zwangsgebühren abschaffen, müssen wir den Sender über das Budget aufrechterhalten.