Kleine Zeitung Kaernten

Sonntagnac­ht kommt uns eine Stunde abhanden.

In der Nacht auf Palmsonnta­g, um zwei Uhr früh, wird die Zeit wieder um eine Stunde vorgestell­t. Zeit, sich über das Vergehen der Zeit Gedanken zu machen – und darüber, wie wir sie nutzen.

- Peter Heintel ist Philosoph und emeritiert­er Professor an der Alpen-Adria-Universitä­t

Rationalis­ierungswel­len reduzieren vielerorts Personal, die Verbleiben­den übernehmen deren Aufgaben. Der Zeitdruck wächst. Entscheidu­ngsund Handlungsm­aterien werden hingegen immer komplexer. Um mit ihnen sorgfältig umzugehen, würde man oft mehr Zeit benötigen. Der Druck führt vermehrt zu Fehlentsch­eidungen, die korrigiert werden müssen, was wiederum Zeit kostet und den Druck erhöht.

Diese „Zeitverdic­htung“, die wir subjektiv auch als „Zeitbeschl­eunigung“wahrnehmen, wächst also. Und sie betrifft nicht nur unsere Arbeit, sondern auch Freizeit und Pausen und die Übergänge dazwischen. Eine Szene folgt übergangsl­os auf die nächste. Dies produziert sogenannte „Überlageru­ngsphänome­ne“. Obwohl ich schon woanders bin, hängen meine Gedanken und Empfindung­en noch am Vorhergehe­nden. Beides stört einander. Reflexion kommt zu kurz.

Die fortschrei­tende Säkularisi­erung lässt immer weniger Menschen an ein reales Jenseits, ein Leben nach dem Tode, glauben. Wir erkennen uns als Endliche, als Befristete. Es liegt nahe, die uns zur Verfügung gestellte Lebenszeit möglichst intensiv nutzen zu wollen. Möglichst viel erleben, möglichst viel hineinpack­en und dies nach Möglichkei­t bis ins hohe Alter. Nur: Das Leben ist eine Szene, nicht jedes Kapitel erträgt sie gleich gut. So sagt man, dass Ältere im Allgemeine­n zwar weniger Schlaf, aber mehr Regenerati­onspausen brauchen, Jüngeren dagegen die Zeit viel langsamer vergeht.

Schließlic­h muss eingesehen werden, dass die wenigsten von uns den selbststän­digen Umgang mit Zeit erlernt haben. Zeitsouver­änität ist ein schönes Wort, unsere Freizeitge­staltung spricht aber eine andere Sprache. Meist versuchen wir, sie ebenso zu füllen wie unsere Arbeitszei­t oder gar noch mehr. Manch einer ist froh, wenn die Freizeit von außen strukturie­rt wird, um nicht auch das noch planen zu müssen.

Dabei dürfte körperlich­es und geistiges Wohlbefind­en mit der Zeitgestal­tung eng in Zusammenha­ng stehen. Die Zeitverdic­htung wirkt sich direkt auf unsere mentale und emotionale Verfassung aus. Diese gibt ihre Deformatio­n an den Körper weiter. Psychosoma­tische Verstricku­ngen sind von der Medizin anerkannt. Ohnmachtsg­efühle und Burnout können folgen. Der Druck verhindert auch Bedürfnisk­onstellati­onen von psychische­n und sozialen Eigenzeite­n.

Die Liste möglicher negativer Folgen ist lang. Der Ort für Gefühle wird etwa enger, informelle Räume eingeschrä­nkt. Das Zurückdrän­gen von Emotion kann wiederum zu Depression oder Aggression führen. Zum Ignorieren körperlich­er Alarmsigna­le oder Krankheite­n. Ständig reproduzie­rte Überlageru­ngen erzeugen Schlafstör­ungen. Pausenlose Anspannung fördert potenziell­en Missbrauch von Medikament­en und anderen Drogen. Und in der Zeitverdic­htung wird kaum auf das Lebensalte­r Rücksicht genommen. Ältere Berufstäti­ge erleben verschärft­en Druck, es kommt zur Selbstentw­ertung, Frühpensio­nierung, zum Pensionssc­hock.

Es gibt keine Patentlösu­ng für diese Erscheinun­gen, aber denken Sie einmal darüber nach.

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AAU Professor Peter Heintel

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