Sonntagnacht kommt uns eine Stunde abhanden.
In der Nacht auf Palmsonntag, um zwei Uhr früh, wird die Zeit wieder um eine Stunde vorgestellt. Zeit, sich über das Vergehen der Zeit Gedanken zu machen – und darüber, wie wir sie nutzen.
Rationalisierungswellen reduzieren vielerorts Personal, die Verbleibenden übernehmen deren Aufgaben. Der Zeitdruck wächst. Entscheidungsund Handlungsmaterien werden hingegen immer komplexer. Um mit ihnen sorgfältig umzugehen, würde man oft mehr Zeit benötigen. Der Druck führt vermehrt zu Fehlentscheidungen, die korrigiert werden müssen, was wiederum Zeit kostet und den Druck erhöht.
Diese „Zeitverdichtung“, die wir subjektiv auch als „Zeitbeschleunigung“wahrnehmen, wächst also. Und sie betrifft nicht nur unsere Arbeit, sondern auch Freizeit und Pausen und die Übergänge dazwischen. Eine Szene folgt übergangslos auf die nächste. Dies produziert sogenannte „Überlagerungsphänomene“. Obwohl ich schon woanders bin, hängen meine Gedanken und Empfindungen noch am Vorhergehenden. Beides stört einander. Reflexion kommt zu kurz.
Die fortschreitende Säkularisierung lässt immer weniger Menschen an ein reales Jenseits, ein Leben nach dem Tode, glauben. Wir erkennen uns als Endliche, als Befristete. Es liegt nahe, die uns zur Verfügung gestellte Lebenszeit möglichst intensiv nutzen zu wollen. Möglichst viel erleben, möglichst viel hineinpacken und dies nach Möglichkeit bis ins hohe Alter. Nur: Das Leben ist eine Szene, nicht jedes Kapitel erträgt sie gleich gut. So sagt man, dass Ältere im Allgemeinen zwar weniger Schlaf, aber mehr Regenerationspausen brauchen, Jüngeren dagegen die Zeit viel langsamer vergeht.
Schließlich muss eingesehen werden, dass die wenigsten von uns den selbstständigen Umgang mit Zeit erlernt haben. Zeitsouveränität ist ein schönes Wort, unsere Freizeitgestaltung spricht aber eine andere Sprache. Meist versuchen wir, sie ebenso zu füllen wie unsere Arbeitszeit oder gar noch mehr. Manch einer ist froh, wenn die Freizeit von außen strukturiert wird, um nicht auch das noch planen zu müssen.
Dabei dürfte körperliches und geistiges Wohlbefinden mit der Zeitgestaltung eng in Zusammenhang stehen. Die Zeitverdichtung wirkt sich direkt auf unsere mentale und emotionale Verfassung aus. Diese gibt ihre Deformation an den Körper weiter. Psychosomatische Verstrickungen sind von der Medizin anerkannt. Ohnmachtsgefühle und Burnout können folgen. Der Druck verhindert auch Bedürfniskonstellationen von psychischen und sozialen Eigenzeiten.
Die Liste möglicher negativer Folgen ist lang. Der Ort für Gefühle wird etwa enger, informelle Räume eingeschränkt. Das Zurückdrängen von Emotion kann wiederum zu Depression oder Aggression führen. Zum Ignorieren körperlicher Alarmsignale oder Krankheiten. Ständig reproduzierte Überlagerungen erzeugen Schlafstörungen. Pausenlose Anspannung fördert potenziellen Missbrauch von Medikamenten und anderen Drogen. Und in der Zeitverdichtung wird kaum auf das Lebensalter Rücksicht genommen. Ältere Berufstätige erleben verschärften Druck, es kommt zur Selbstentwertung, Frühpensionierung, zum Pensionsschock.
Es gibt keine Patentlösung für diese Erscheinungen, aber denken Sie einmal darüber nach.