Zeichen des Neubeginns
PALMSONNTAG. Wie sich das alte Jerusalem gegen Jesus und seine Anhänger wehrte.
Als Jesus unter dem Jubel der Menschen in Jerusalem einzog, rümpften vermutlich nicht wenige Großbürger der Stadt, Pharisäer wie Sadduzäer, die Nase. Der Mann auf dem Esel sei zwar ein Jude wie sie, aber doch keiner von ihnen. Er stamme nämlich aus dem „ha Galil ha Gojim“– aus Galiläa, dem Heidenland.
In dieser Zuschreibung schwang viel an Abschätzigkeit mit, die neben der besprochenen Person auch der Gegend galt. Denn Galiläa, das war aus der Sicht der Hauptstadt tiefste Provinz. Eine charmante Gegend zwar, aus der man das beste Olivenöl des Landes für den Tempel bezog und aus der man sich beinahe das ganze Jahr über mit frischem Obst und Gemüse und auch mit Fisch aus dem See Genezareth versorgen ließ. Aber abgesehen von den landwirtschaftlichen Erzeug- war es eine abgelegene Region, in der es 204 Dörfer und nur drei Städte gab: Tiberias, Magdala und Sepphoris.
Das Schlimmste für die religiöse Führungsschicht der Juden aber war, dass Galiläa religiös nicht zuverlässig war. Lange war es von einer heidnischen Mehrheitsbevölkerung dominiert gewesen, weswegen es um 115 vor Christus auch eine Zwangsjudaisierung gegeben hatte. Die Frage war also: Ist dieser Mann aus Nazareth, von dem manche glauben, er sei der Messias, denn überhaupt ein Jude aus dem Geschlecht Davids? Oder huldigten seine Ah- nen noch irgendeinem fremden Gott?
War Letzteres der Fall, so konnte er auf keinen Fall der Erlöser sein, auf dessen Erscheinen sie jeden Tag hofften, auch wenn er sich gerade als König inszenierte und als solcher von den Massen auf seinem Weg vom Ölberg in die Stadt gefeiert wurde. Auf seinem Esel zeigt er zwar Bescheidenheit, aber zugleich erhebt er nach dem Propheten Sacharja auch allerhöchste Ansprüche: „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Gerecht ist er und Rettung wurde ihm zuteil, denissen mütig ist er und reitet auf einem Esel, ja auf einem Esel.“Jesus also doch ein König? Und dann ausgerechnet noch aus Galiläa? Das war in den Augen des religiösen Establishments von Jerusalem nur schwer vorstellbar. Wie hatte schon der Prophet Jesaja (740–701) gesagt: „die da wohnen im finsteren Land“. Damit meinte er eben den Norden des Landes, der sich seit dem großen Propheten im achten Jahrhundert nicht verändert hatte.
Auch in den Tagen Jesu lebten etwa 90 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, und wenn die Gegend auch fruchtbar und der See ertragreich war, so waren die Leute doch arm. Fischer mussten Fanglizenzen erwerben, die von der Wasserpolizei kontrolliert wurden, sie zahlten Steuern und Zölle, wenn sie ihren Fang exportieren wollen. Ihnen blieb wenig, den Händlern viel. Der
Historiker Josephus Flavius nannte sogar die „Schiffleute und die Besitzlosen“in einem Zusammenhang. Das also waren die Menschen, mit denen Jesus verkehrte: Handwerker und Bauern, kleine Gewerbetreibende und Fischer, Hirten, Waisen, Bettler, Prostituierte. Bei den Jerusalemer Bürgern musste sich im Blick auf die Gefolgschaft Jesu eine ungeheure kulturelle Überlegenheit eingestellt haben. Diese sprachen ein umgangssprachliches Aramäisch, während viele von ihnen selbst neben dem klassischen Hebräisch auch noch Griechisch und Latein beherrschten.
Dementsprechend erörterten sie auch nicht nur Fragen der Thora, sondern erwogen auch Probleme der griechischen und römischen Philosophen. Sie, die in Rhetorik und Logik geschult waren, hatten gelernt, abstrakt zu denken. Die einfachen Fischer, mit denen dieser Jesus predigend durchs Land zog, verstanden anscheinend nur die Bilder ihrer kleinen Erfahrungswelt: Ein Schaf geht verloren oder jemand baut sein Haus auf Sand. Auch vom Weizenkorn, das in die Erde fällt, ist die Rede. Jerusalem hingegen – das war in den Augen der Pharisäer und Sadduzäer der Mittelpunkt des Universums. Im Zentrum der Stadt stand der Tempel, der in konzentrischen Kreisen angelegt war. Den innersten Kreis stellte das Allerheiligste dar, der Wohnort Gottes. Um diesen Gott Israels, den Schöpfer des Himmels und der Erde, ausreichend zu würdigen, hatte Herodes der Große erst wenige Jahre zuvor den Tempel auf 144 Dunam (144.000 Quadratmeter) erweitern lassen. In Anspielung auf die Zahl 12, eine Zahl der Fülle und Unendlichkeit, wollte er die Größe des jüdischen Gottes zeigen und die unendliche Verehrung, die ihm durch sein auserwähltes Volk zuteilwurde. Dazu scheute er keine Mühen: Der schwerste Stein, den er ins Fundament des Tempels legen ließ, wog über 400 Tonnen. Und nicht nur den Tempel, sondern auch einen fantastischen Privatpalast sowie die Festung Antonia, in der später der Apostel Paulus gefangen sein wird, und einen riesigen Grabbau, um an König David zu erinnern, ließ Herodes der Große unter anderem errichten. In der jüdischen Tradition späterer Zeiten wird sich die Vorstellung von „zehn Eimern Schönheit“durchsetzen. Neun davon habe Gott über Jerusalem entleert, der zehnte musste für den Rest der Welt reichen. In den Tagen von Pessach prallten in Jerusalem die beiden Welten aufeinander. Jene Welt der Pilger aus Galiläa und jene der Einwohner Jerusalems. Auf der einen Seite standen das urbane Leben und auch ein ungeheurer Prunk, auf der anderen große Einfachheit. Zu dieser gehörte auch die Schlichtheit der Sprache. Und so antwortete Jesus von Nazareth auf Jesaja und dessen Bild von Galiläa als „finsterem Land“: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“Das gab den Menschen offenbar Hoffnung.
Sie wiederum bescheinigten dem Mann aus Nazareth, er habe sie gelehrt wie einer, der „göttliche Vollmacht“hat. Aber ein paar Tage später kreuzigten sie ihn. Dabei ist es durchaus vorstellbar, dass diejenigen, die ihn beim Einzug in die Stadt bejubelt hatten, vor Pontius Pilatus lautstark seinen Tod forderten.
Bei Jerusalems Bürgern musste sich im Blick auf Jesu Gefolgschaft eine große kulturelle Überlegenheit eingestellt haben.
Das Schlimmste für die religiöse Führungsschicht der Juden aber war, dass Galiläa religiös nicht zuverlässig war.