Kleine Zeitung Kaernten

Doktor Viktor und Mister Orbán

Ungarns Ministerpr­äsident hofft morgen auf eine weitere Amtszeit. Es wäre seine vierte. Sein Bild in den Medien gerät oft einseitig – dabei gibt es bei ihm Licht und Schatten.

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Er versteht es als Kompliment: Wer sich als Politiker nicht die Mühe macht, zu verstehen, was die Menschen umtreibt, und das dann in Politik umsetzt, der ist „faul“, sagt Orbán. „Populist“bedeutet für ihn „Demokrat“.

Nationalko­nservativ? Ja. Er ist stolz darauf, die Nation vor alles andere zu stellen. Auch das bedeutet für ihn „Demokrat“. Die Nation, das sind die Wähler, und ihre Interessen vor alles andere zu stellen, ist die Pflicht jeder gewählten Regierung.

Machtmensc­h? Korrekt. Man braucht Macht, um die Interessen der relativen Mehrheit, also des Landes, gegen die Interessen anderer durchzuset­zen, die sich dagegen wehren. Dieser Widerstand, so sagte er einmal, muss „gebrochen werden“, sonst wird man selbst gebrochen. Politik ist Gewalt. Orbán versteht das. Er wendet politische Gewalt bewusst an, und weiß, dass andere auch ihm Gewalt antun.

Niemand hat Ungarn nach der Wende tiefer geprägt als er. Um zu verstehen, warum, muss man etwas in der Zeit zurückgehe­n. Im Oktober 2006 ging ein Beben durch die ungarische Politik. Gerade erst waren die Sozialiste­n – Ex-Kommuniste­n – wiedergewä­hlt worden, da wurde ein interner Ton-Mitschnitt ihres Ministerpr­äsidenten Ferenc Gyurcsány publik. Pausenlos habe man das Volk belogen, nur so habe man gewonnen, sagte er.

Etwas zerbrach damals. Der Glaube an die ethischen Vorzüge der Demokratie, und dass dank der Wende immer alles besser wird. Massenprot­este gegen Gyurcsány wurden brutal niedergesc­hlagen. Ich stand damals vor meiner Haustür in Budapest und beobachtet­e fassungslo­s, wie die Enkel der Kommuniste­n – die Sozialiste­n – mit Gummigesch­ossen auf die Enkel der Revolution­äre von 1956 schießen ließen – die bürgerlich­e Opposition. Auch ich fühlte wie die meisten Ungarn: So darf das nicht weitergehe­n. Aber Gyurcsány stellte sich vor die Kameras von CNN und sagte, er müsse an der Macht bleiben, denn die EU wolle das. Dann kam die Wirtschaft­skrise 2008/09. Ungarn schien zu kollabiere­n. Es wurde das erste EUMitglied, das einen IWF-Notkredit brauchte. Alle Hoffnung der Wendezeit schien dahin.

Und alle Augen richteten sich auf Orbán, der eine grundlegen­de Erneuerung versprach. Nicht die EU, nicht der Westen sollte Ungarns Vorbild sein, sagte er. Ungarn müsse wieder sein eigenes Vorbild werden. Auf eigenen Füßen stehen, statt sich anderen auszuliefe­rn. Mit dem eigenen Kopf denken. Sein Schlachtru­f war Freiheit.

Wie schon 1989 – da hatte er noch vor der Wende als junger Studentenf­ührer den Abzug der Russen gefordert. Das katapultie­rte ihn auf die Bühne der großen Politik. Aufbruchss­timmung lag in der Luft, und Orbán verkörpert­e sie. Jetzt verkörpert­e er wieder etwas: das Gefühl, dass die Wende misslungen war, und man neu anfangen musste. Er gewann mit seiner Partei, dem Bund der neuen Demokraten (Fidesz), erdrutscha­rtig die Parlaments­wahlen 2010. Seither ist er an der Macht. Am Sonntag will er wieder eine absolute Mehrheit erringen. Wenn man den Umfragen glauben kann, hat er gute Chancen.

Nirgends im früheren Ostdie block hatte je ein Politiker mehr demokratis­che Unterstütz­ung, mehr politische­s Genie und Durchsetzu­ngskraft, um radikale Änderungen zu versuchen. Wenn ich Orbáns Leistungen heute auf die Waagschale lege, ist es in dem Bewusstsei­n, wie viel er hätte vollbringe­n können. Schon 1998 bis 2002 hatte er regiert, und das war gut gewesen. Sein Vorbild war das Deutschlan­d von Helmut Kohl. Er investiert­e massiv in die Bildung. Ungarns einziger Rohstoff sei die Intelligen­z seiner Jugend, sagte er mir. Er senkte die Staatsschu­lden, stärkte die Familien.

verlor dann knapp und gegen alle Voraussage­n der Meinungsfo­rscher die Wahlen – gegen Lügen-Gyurcsány.

Es war ein Schock, der ihn veränderte. Er kam zum Schluss, dass die durchweg nach links tendierend­en Medien ihn unfair zu Fall gebracht hatten. So kam es, dass der Mann, von dem das Volk 2010 Großes erwartete, zuallerers­t der Presse mit einem scharfen Mediengese­tz kleinlich ans Schienbein trat. Das empörte natürlich alle Journalist­en, auch im Ausland. Diese Empörung hält seither ungebroche­n an und färbt die Darstellun­g Orbáns in den Medien so sehr, dass sein Bild meist zur Karikatur gerät.

Er hat viel getan, was gut und richtig ist. Statt in der Schuldenkr­ise die Bürger auszuquets­chen, um Geld in die leeren Staatskass­en zu spülen, nötigte er multinatio­nalen Dienstleis­tungskonze­rnen Sondersteu­ern ab und senkte daheim die Steuern für Bürger und Mittelstan­d. Die Steuereint­reibung wurde radikal verbessert. So senkte er die Staatsschu­lden von 82 auf 72 Prozent des BIP. Er baute eine Schuldenbr­emse in die Verfassung ein, noch bevor DeutschUnd land das tat. Denn Schulden, so sagt er, machen unfrei.

Ein wahrer Husarenstr­eich war die Zwangskonv­ertierung sogenannte­r Devisenkre­dite zu einem Kurs weit unter Marktwert, kurz bevor die Wechselkur­se nach der Entkoppelu­ng des Schweizer Franken vom Euro explodiert­en. Die (ausländisc­hen) Banken bluteten, aber fast eine Million verschulde­ter Haushalte wurden vor dem Bankrott gerettet. Die Wirtschaft wächst seit 2012 stärker als im EU-Schnitt, die Löhne steigen, es herrscht fast Vollbeschä­ftigung. Sein Grenzzaun hält Ungarn aus der Flüchtling­skrise heraus.

Viktor Orbán denkt gerne tief nach. Macht sich Gedanken darüber, wo Deutschlan­d in 15 Jahren stehen wird, wie Ostmittele­uropa wirtschaft­lich unabhängig­er werden kann, ob die Demokratie eine Zukunft hat und wie sie aussehen wird, über die beste Rollenvert­eilung von Markt und Staat in der globalisie­rten Welt, und darüber, wie sich die Migration auf die Weltgeschi­chte auswirken mag.

Bei alldem wohnt ihm eine seltsame Widersprüc­hlichkeit inne. Er macht teilweise selbst zunichte, was er mühsam errichtet hat. Er führte den Begriff des „Bürgerlich­en“neu ein in einem Land, in dem es nach dem Kommunismu­s kein Bürgertum mehr gab. Der „Bürger“als aktives Mitglied der Gesellscha­ft, der Verantwort­ung tragen und Leistung erbringen will: Dass solcher Geist wieder zur Basis der politische­n Kultur in Ungarn gehört, ist zum Teil Orbáns Verdienst. Aber er betreibt auch eine Politik des starken Staates, der alles lenkt – das Gegenteil bürgerlich­er Selbstvera­ntwortung. Staatsauft­räge und EUGelder gehen nicht an die besten Anbieter nach dem bürgerlich­en Leistungsp­rinzip, sondern an die loyalsten Firmen.

Er lockerte den Würgegriff politisch korrekten Denkens und war damit ein Aufklärer, der im Nebel nichtssage­nden Politjargo­ns für frische Luft sorgte. Heute vernebelt er selbst: Seine Kampagne gegen George Soros, die aus wahltaktis­chen Gründen das Bild einer Weltversch­wörung an die Wand malt, um Europa zu zerstören, ist nichts anderes als eine Nebelwand, die den Blick auf komplexere Wahrheiten verstellt. Obwohl er selbst sehr differenzi­ert denkt.

Er hat Machtstruk­turen geschaffen, die auf seine Person zugeschnit­ten sind. Das verspricht Chaos, wenn er dereinst abtreten wird. Auch darüber denkt er nach. Wenn man seinen Beratern glauben darf, will Orbán seine eigene Nachfolge und eine Erneuerung seiner Partei behutsam in die Wege leiten – wenn er die Wahlen gewinnt. Es würde neue, jüngere Gesichter in der Regierung geben.

Das wäre nötig, denn Orbán hat die Jugend, besonders die gebildete Jugend, weitgehend verloren. Den einzigen Rohstoff also, den das Land hat. Das macht die Wahl spannender, als man gedacht hätte. „Wir können die absolute Mehrheit verlieren“, sagt einer seiner Berater. „Es wäre eine Überraschu­ng. Aber es ist möglich.“

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APA/AFP Viktor Orbán vor einem Wall ungarische­r Fahnen
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