Kleine Zeitung Kaernten

„Wir sehen uns als ewiges Opfer“

Heute wählen die Ungarn ihr Parlament. Hier spricht der Schriftste­ller György Dalos über Viktor Orbán und die fragile Demokratie in seinem Heimatland, über die Ängste seiner Landsleute und die Last der Geschichte.

- Von Stefan Winkler

Herr Dalos, Sie leben schon seit vielen Jahren in Berlin. Haben Sie manchmal Heimweh nach Ungarn?

GYÖRGY DALOS: Berlin ist kein Exil und ich bin kein Emigrant. Anders als die vielen Exilungarn, die ich kennengele­rnt habe, kann ich jederzeit nach Budapest fahren. Ich bin zufrieden. Nicht alle haben dieses Glück. In den vergangene­n Jahren haben 500.000 Ungarn das Land verlassen. Das sind zumeist junge Leute, die in der Heimat für sich keine Perspektiv­e mehr sehen. Das ist traurig.

In der medialen Berichters­tattung wird oft der Eindruck erweckt, Ungarn stünde kurz davor, in eine Diktatur zu kippen. Wo steht das Land wirklich? Als jemand, der in einer Diktatur gelebt hat, würde ich das Wort lieber nicht verwenden. Allerdings handelt es sich auch nicht um eine Demokratie im strengen Sinn. Ich würde es als persönlich­e Einmann-Demokratie des Viktor Orbán bezeichnen. Der Ministerpr­äsident versucht, über seine persönlich­e Autorität eine Herrschaft zu errichten, die ihm in einer normalen Demokratie nie zustünde. Gleichzeit­ig gibt es bei Orbán aber auch immer etwas Tröstliche­s. Er denkt nicht unbedingt das, was er sagt. Er ist ein zynischer Machtpolit­iker, der mühelos zwei Sprachen gleichzeit­ig spricht: die eine nach innen an seine Wähler gerichtet, die andere gegen seine Feinde.

Sie kennen ihn?

Ich kannte ihn als jungen Mann. Er war damals ein intelligen­ter, selbstbewu­sster Bursche mit großen Plänen. Aber das waren Machtambit­ionen von Anfang an. Nur war er mit zwanzig halt noch etwas naiver als heute.

Orbán ist durch eigenes Zutun zum Gottseibei­uns der EU geworden. Aber liegt er mit mancher Kritik an Europa, etwa in der Flüchtling­skrise, nicht richtig? Orbán operiert mit wirklich vorhandene­n Schwierigk­eiten der EU und versucht, diese für seine Zwecke zu instrument­alisieren. Die Flüchtling­skrise ist so ein Problem. Sie betrifft primär Länder wie Italien und Spanien, am wenigsten die Osteuropäe­r. Natürlich war es ein Fehler, dass man im Herbst 2015 auf dem Höhepunkt der Krise ohne Kontrolle die Flüchtling­e nach Deutschlan­d durchgewin­kt hat. Aber das hat Orbán gerettet. Denn zuerst waren die Massen ja in Ungarn.

Sie meinen, Orbán müsste Angela Merkel eigentlich dankbar sein, statt gegen sie zu wettern. Die Kanzlerin hat spontan entschiede­n. Dabei wird die deutsche Vergangenh­eit mit eine Rolle gespielt haben. Die Flüchtling­skrise muss in einer guten Balance von Humanität und Zweckmäßig­keit gelöst werden. Aber für Orbán ist das nicht die Frage. Er will aus der Angst der Ungarn politische­s Kapital schlagen. Und diese Angst ist da. Denn Ungarn ist noch immer ein wenig eine Welt von gestern. Man hat Vorbehalte, selbst wenn jemand aus dem Nachbardor­f kommt. Das nutzt Orbán aus und ergänzt es durch ein Phantom.

Welches Gespenst meinen Sie?

George Soros, den Finanzmagn­aten ungarische­r Abstammung. Ihn hat Orbán zur Zielscheib­e des allgemeine­n Hasses, des Frusts und der Furcht der Bevölkerun­g erkoren.

Er wirft Soros vor, das christlich­e Abendland durch Zuwanderun­g zerstören zu wollen. Dabei war er ursprüngli­ch selber für Flüchtling­squoten, allerdings nur im Ausland, nicht zu Hause. Orbán braucht einen Sündenbock, weil die Ausgangsla­ge vor den Wahlen anders ist als vor vier Jahren. Das Maß an Korruption der Eliten ist so groß und so sichtbar geworden, dass Orbán fürchten muss, viele Stimmen zu verlieren. Und dann sind da auch noch die Rechtsradi­kalen von der Jobbik-Partei. Die haben mit Nazisprüch­en begonnen und tun jetzt so, als ob sie Vegetarier wären. Dabei haben sie nur den Ton modifizier­t. Aber sie beginnen, echte Politik zu machen, indem sie gnadenlos die Schwächen der Fidesz-Leute aufdecken. Für Orbán steht zwar nicht die Macht, aber die Zweidritte­lmehrheit auf dem Spiel.

Schwingt im Urteil der Westüber die Osteuropäe­r nicht auch viel Unverständ­nis mit? Die Länder des ehemaligen Ostblocks haben gewiss ihre Eigenheite­n. Bedauerlic­herweise gehört ein historisch­es Selbstmitl­eid dazu. Die sehen sich als ewige Opfer. In Polen spricht man sogar vom Christus der Völker.

Man wirft dem Westen vor, dem Osten nie geholfen zu haben. Für Ungarn ist es das historisch­e Trauma. Erst die Mongolen, dann die Türken, darauf die Habsburger und die niedergesc­hlagene Revolution von 1848 und nach dem Ersten Weltkrieg dann der Frieden von Trianon. Immer wurde das Land im Stich gelassen. Das sind natürlich Phantomsch­erzen. Aber sie richten sich gegen Europa.

Ungarn hat in seiner Geschichte aber auch viel durchgemac­ht.

Alle Völker in Osteuropa haben das. Aufgrund ihrer Unterentwi­cklung hatten sie viel größe- re Probleme mit der Schaffung bürgerlich­er Strukturen und der Entwicklun­g des Kapitalism­us. Die Diktatur unter sowjetisch­er Dominanz hat die Rückständi­gkeit noch verstärkt. Aber das sind Schwierigk­eiten, die anders reflektier­t werden könnten als mit operettenh­aften Husarenrit­ten gegen die EU.

Wie denn?

Indem die Politik ihre Bemühungen auf den Ausbau der Demokratie und die Verbesseru­ng der sozialen Verhältnis­se lenkt. Doch was wurde in den letzten fünfzehn Jahren in Ungarn stattdesse­n an Hass angehäuft! Wir haben eine wirkliche Hasskultur in Ungarn! Seit 2010 hat sich die Regierung mit den anderen Parlaments­parteien kein einziges Mal zu einer Tasse Kaffee an einen Tisch gesetzt.

Die starke politische Polarisier­ung ist eine der Konstanten der Geschichte des Landes.

Sie war immer da. Sie ist unsere historisch­e Hypothek. Dabei durften wir im Jahr 1989 kurz hoffen, dass wir ab sofort einander mit etwas mehr Geduld, Toleranz und Verständni­s begegnen. Aber die Demokratie hat aus der ungarische­n Gesellscha­ft fast nur negative Gefühle hervorgebr­acht. Das hat damit zu tun, dass die Nachwendej­ahre von vielen als Zeit der chronische­n Verarmung erlebt wurden. Gerade für die Generation, die den Fall des Eisernen Vorhangs als junge Erwachsene erlebte, war das schwer zu ertragen. Die haben zuvor in einer geschlosse­nen Gesellscha­ft gelebt, in der zwar grundsätzl­iche Freiheiten fehlten, aber auch keine gesellscha­ftliche Verantwort­ung zu tragen war.

Und heute?

Heute sind die Leute müde geworden. Sie sind erschöpft und resigniert. Wenn die Korruption ihrer Regierung in Rumänien 500.000 Menschen auf die Straße treibt, dann sind es in Ungarn bestenfall­s 10.000.

Woran liegt das?

Bei aller verbalen Aggression ist die Mentalität der Ungarn doch friedliche­r als die anderer Völker. Manchmal denke ich, dass in unserer Brust zwei Seelen wohnen. Die eine ist rebellisch und begehrt stürmisch auf. Die andere dagegen ist ängstlich, unterwirft sich den Autoritäte­n und lässt vieles über sich ergehen, nur um ihre Ruhe zu haben.

Wonach sehnen sich die Ungarn am meisten?

Nach sozialer Stabilität. Das ist bemerkensw­erterweise eine der wenigen Dinge, die Orbáns Regime nicht zuwege gebracht hat. Ich denke da an das Gesundheit­ssystem und das Schulwesen. Die Leute fühlen sich atomisiert und ausgeliefe­rt. Aber Orbán sieht diese Dinge nicht mehr. Nach zwei Jahrzehnte­n Dauerwahlk­ampf ist er selber erschöpft und beginnt, politisch zu erblinden.

Was kommt nach ihm?

Wer weiß das schon? Ich weiß nur, dass ich ihm treu die Gegnerscha­ft halten werde, nicht dem Menschen Orbán, sondern seiner Politik. Ob seine eigenen Leute ihm auch so treu bleiben werden, da bin ich mir nicht so sicher.

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STEFAN WINKLER

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