Kleine Zeitung Kaernten

Nach dem Wahltriump­h blickt Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán nach Europa.

Nach seinem Triumph sieht Viktor Orbán sich bereits als historisch­e Figur. Für die Ungarn ist er es wohl auch. Nun richtet der Ministerpr­äsident den Blick auf Europa. Porträt eines Mannes, der ehern an sich und seine Sendung glaubt.

- Von unserem Korrespond­enten Orbán findet es unmoralisc­h, Boris Kálnoky aus Budapest

In besonders bedrängten Zeiten hat Ungarn im Laufe der Jahrhunder­te immer wieder Führungspe­rsönlichke­iten hervorgebr­acht, die einen Weg in die Zukunft wiesen“– das sagte Ungarns Parlaments­präsident László Kövér einst diesem Reporter. „Ich glaube, dass unser Ministerpr­äsident Viktor Orbán eine solche historisch­e Führungsfi­gur ist.“Und nannte zum Vergleich eine Reihe ikonischer Helden aus den Kriegen gegen Türken und Habsburger.

Man gewinnt zuweilen den Eindruck, dass nicht nur viele Ungarn, sondern auch Orbán selbst es ähnlich sieht. Seine Lieblingsf­igur in der Literatur, sagte er dem Schreiber dieser Zeilen, sei Miklós Toldi, der ritterlich­e Held eines epischen Gedichts von János Arany. Ein sagenhaft starker Recke, der Frauen schützt, Feinde niederstre­ckt, und des Königs glorreichs­ter Ritter ist – im 14. Jahrhunder­t.

Ob das heute nicht ein bisschen veraltet sei, so ein Heldenbild, wurde Orbán einmal gefragt. sagte er, „wir brauchen heute wieder Toldis. Etwa um die Frauen in den Flüchtling­slagern zu beschützen, wenn Sie wüssten, was da alles passiert ...“Das war im September 2015, und Orbán hatte gerade seinen umstritten­en Grenzzaun errichtet. Umstritten zumindest bei jenen, die es unmoralisc­h fanden, Europa vor dem Zustrom Hunderttau­sender Migranten zu schützen.

die eigene Kultur, die eigene Gesellscha­ft, nicht zu bewahren. Die eigene, um es mit seinen Worten zu sagen, Nation. Wenige Wochen vor seiner Bemerkung über Toldi genoss er eine gigantisch­e Volkstanz-Choreograp­hie in der Budapester Papp-László-Arena. Alle ungarische­n Volkstanzg­ruppen, auch aus den Nachbar- ländern, nahmen daran teil. Orbán hatte einiges dazu beigetrage­n, das zustande zu bringen. „Diese Ensembles sind berüchtigt dafür, wie sehr sie miteinande­r rivalisier­en“, sagte er. Die Show hatte eine ländliche Hochzeit in Siebenbürg­en zum Thema, ein Erzähler verband die verschiede­nen Tanzszenen mit mehr oder minder geistvolle­n Sätzen. Als er an einer solchen Stelle ausrief: „Ah, Karpatenbe­cken, Schmelztie­gel der Nationen!“, platzte es aus Orbán heraus: „Diese Liberalen“, raunte er dem Reporter an seiner Seite ins Ohr, „sie sind besessen davon, dass die Nationen verschmelz­en müssen.“

Orbán findet das nicht. Dass es zum Teil Fakt ist, erkennt er an: Ungarn sei eines der vermischte­sten Völker Europas, sagte er in einem Interview. Deutsche, Ser„Nein“, ben, Slowaken, alles Mögliche finde sich im Erbe des ungarische­n Volkes. Auch das Christentu­m bestehe nicht nur aus Gläubigen, sondern sei eine einzigarti­ge Kultur, deren Werte auch in den Nichtgläub­igen leben – etwa die grundsätzl­iche Achtung zwischen Mann und Frau. Aber doch sei es ein Volk, das ungarische, mit einer unverwechs­elbaren kulturelle­n Eigenart. Das mutwillig ändern zu wollen, kann nicht Wunsch der Politik sein, meint er. Er will tatsächlic­h, nicht nur als effekthasc­hende Floskel, ein „ungarische­s Ungarn“, wenn es bewahrt werden kann, und ein „europäisch­es Europa“. Also eines, dessen Gesellscha­ft nicht noch radikaler durch Einwanderu­ng umgewälzt wird, als es ohnehin schon der Fall ist, während die Eliten dieser Gesellscha­ft nichts Beklagensw­ertes darin sehen.

Man mag dazu stehen, wie man will, eines kann man Orbán nicht verwehren: Nur mit der Kraft seiner Worte hat er es geschafft, als Regierungs­chef eines kleinen, relativ armen Landes von weniger

zehn Millionen Einwohnern ganz Europa aufzurütte­ln. „Wenn er doch nur den Mund halten würde!“, zürnt Gerald Knaus, Leiter des Think Tanks „European Stability Initiative“und Vordenker des europäisch­en Flüchtling­sdeals mit der Türkei. Hans Stark vom Französisc­hen Institut für internatio­nale Beziehunge­n macht Orbán gar für den Aufstieg der AfD verantwort­lich.

Migration ist Orbáns Thema, und dass er es dauernd betont, hängt nicht nur mit Wahlkampf zusammen. Er sieht sich wirklich als Mann, der in Europa aus eigener Kraft ein Umdenken einleiten kann.

Zumindest die Flüchtling­sdebatte hat er den meisten Experten zufolge intellektu­ell gewonnen. Die Flüchtling­spolitik der EU mutet heute an, als wolle Brüssel Orbáns Vorstellun­gen aus dem Jahr 2015 umsetzen: Auffanglag­er außerhalb der EU, von dort aus Umverteilu­ng weltweit, sofern jemand die Migranten auch aufnehmen will – besser, sie kehren irgendwann zurück in ihre Heimat. Dazu echter Grenzschut­z und knallharte Abschiebep­raxis.

Orbán hat dank dieser Debatte Budapest erstmals seit dem Ersten Weltkrieg wieder zu einem Ort gemacht, an dem europäisch­e Politik mitentschi­eden wird. Die Flüchtling­skrise wurde zum Katalysato­r einer Emanzipati­onspolitik Ostmittele­uropas von der bis dahin dominanten West-EU. Es war Orbán, der als Wortführer dieser trotz vieler Bruchlinie­n immer einflussre­icheren Ländergrup­pe auftrat und ihr Gehör verschafft­e: die sogenannte VisegrádGr­uppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) und auch deren Nachbarlän­der, etwa Slowenien, Kroatien, das Baltikum, Rumänien. Österreich hat im „Westen“die Bedeutung dieser Entals wicklung als erstes Land erkannt und auf Zusammenar­beit statt Konfrontat­ion mit den Visegrád-Ländern geschaltet.

All das aber wäre nichts wert, wäre Ungarn nicht wirtschaft­lich stabil. Orbán erbte 2010 von der sozialisti­schen Vorgängerr­egierung ein wirtschaft­lich zerrüttete­s Land. Probleme gibt es weiterhin genug, aber die Staatsschu­lden sinken, die Beschäftig­ungsrate ist von 54 Prozent im Jahr 2010 auf 70 gestiegen, die Arbeitslos­igkeit sinkt, die Reallöhne steigen.

So sieht sich Orbán: als einer, der sein Land mit starker Hand und zuweilen kruden Mitteln aus dem Morast befreit und in allem Ernst in dieser Richtung auf ein Europa einwirken will, das sich gar nicht unbedingt im Morast fühlt. Das nächste Ziel sind die Europawahl­en 2019.

Orbán sieht sich wirklich als Mann, der in Europa in der Flüchtling­spolitik aus eigener Kraft ein Umdenken einleiten kann.

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