Kleine Zeitung Kaernten

50 Jahre danach: Wie das Attentat auf den Studentenf­ührer Rudi Dutschke Deutschlan­d und die Welt veränderte.

Vor 50 Jahren wurde der Studentenf­ührer Rudi Dutschke bei einem Attentat in Berlin schwer verletzt. Die Schüsse auf den charismati­schen Bürgerschr­eck wirken bis heute fort.

- Von Arno Widmann aus Berlin

Am Morgen des 11. April 1968 hatte Rudi Dutschke Berliner Fernsehrep­ortern erklärt: „Natürlich kann immer mal ein Wahnsinnig­er oder ein Neurotiker auf mich etwas verüben, aber ich habe keine Angst.“Kurz nach 16.30 Uhr schoss der 23-jährige Hilfsarbei­ter Josef Bachmann auf den bekanntest­en Sprecher der deutschen Studentenb­ewegung. Er verletzte ihn schwer. Dutschke brauchte mehrere Operatione­n und Jahre, um sich von dem Anschlag zu erholen. Am Heiligen Abend 1979 starb Dutschke an einem epileptisc­hen Anfall, einer Spätfolge der schweren Verletzung­en, in der Badewanne.

Zum Anschlag schrieb Hans Magnus Enzensberg­er 2014 in seinem Erinnerung­swerk „Tumult“: „Am Gründonner­stag schoss ein von der Menschenja­gd der Presse aufgehetzt­er armer Teufel Rudi Dutschke mit einer Pistole dreimal in den Kopf und verletzte ihn so schwer, dass sein Leben in Gefahr war. Am selben Abend zogen ein paar Tausend Leute vor das SpringerHo­chhaus in der Kochstraße und versuchten vergeblich, es zu stürmen. Mit Hilfe der üblichen Provokateu­re wurden ein paar Autos angezündet. Das war der Anfang der sogenannte­n Osterunruh­en: Blockaden, Demonstrat­ionen und Straßensch­lachten in zwanzig Städten, bei denen es mindestens zwei Tote gab … Der Pariser Mai, die Studentenp­roteste in Polen und Gomułkas Kampagne gegen den ‚Zionismus‘, die Eskalation im Vietnamkri­eg – überall schien es zu brennen. Und dennoch herrschte auf der Neuköllner Maikundgeb­ung nach dem Attentat auf Dutschke eine seltsam gedämpfte Stimmung. Ich war nicht der Einzige, der das Gefühl hatte, dass wir uns auf einem sinkenden Dampfer befanden. Natürlich wollte das niemand zugeben. Aber bald mehrten sich die Anzeichen, dass der Höhepunkt der Revolte überschrit­ten war. Am 30. Mai verabschie­dete der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition die Notstandsg­esetze. Im Juni kehrte de Gaulle an die Macht zurück. Der Pariser Mai war zu Ende, und im August liquidiert­e die sowjetisch­e Invasion in der Tschechosl­owakei den ‚Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz‘.“

So sahen das damals die, die an die Möglichkei­t eines „Systemwech­sels“geglaubt hatten. Benno Ohnesorg, der im Jahr zuvor auf einer Anti-SchahDemon­stration erschossen worden war, war der erste Märtyrer der neuen Opposition­sbewegung gewesen. Sein Tod hatte Tausende dazu gebracht, auf die Veranstalt­ungen des Sozialisti­schen Deutschen Studentenb­undes zu kommen und mitzumache­n beim Protest gegen den Vietnamkri­eg, gegen die Notstandsg­esetze, gegen die Zustände an den Hochschule­n und gegen die damals noch nicht so genannte, aber genau so verstanden­e „Lügenpress­e“des AxelSpring­er-Konzerns.

Das Attentat auf Rudi Dutschke mobilisier­te Zehntausen­de. Im Zentrum der Osterunruh­en stand der Versuch, die Auslieferu­ng der Zeitungen des SpringerVe­rlages zu verhindern. In den wichtigste­n Städten der Bundesrepu­blik. Es war einerseits das Gefühl, dass die studentisc­hen Rebellen gewisserma­ßen zum Abschuss freigegebe­n wurden, anderersei­ts aber spielten in dem Bild, das die Rebellen sich von der revolution­ären Situation im Spätkapita­lismus – so sprachen sie damals – machten, die „Bewusstsei­nsindustri­e“und der Kampf gegen sie eine zentrale Rolle.

Dass die Massen nicht ihre Chance nutzten, sich den ungeheuren gesellscha­ftlichen Reichtum, den sie geschaffen hatten, anzueignen, lag, so die Analyse der Revolution­äre, wesentlich an den, die bestehende­n Verhältnis­se zementiere­nden Medien. Sie erzeugten den „Verblendun­gszusammen­hang“, gegen den die Aufklärer wie gegen eiserne Mauern anrannten. Die Bild-Zeitung prägte das Bild von der Außerparla­mentarisch­en Opposition (APO) als zu allem entschloss­enen Feinden der freiheitli­chen Demokratie der Bundesrepu­blik. So wurde sie zu deren Feind Nummer eins.

Zurück zu Enzensberg­ers Blick auf die Osterunruh­en und das, was ihnen folgte. Tatsächlic­h löste sich der SDS, die vormalige Speerspitz­e der linken studentisc­hen Opposition, schon am 21. März 1970 auf.

Hat Enzensberg­er also recht? Nein. Die Osterunruh­en waren gewiss der Anfang vom Ende der studentisc­hen Protestbew­egung. Sie waren es aber, weil die Protestbew­egung aus den Universitä­ten hinaustrat.

Es entstanden überall aufmüpfige Gruppen. Einige wenige davon bereiteten sich bewaffnet auf den zu führenden Bürgerkrie­g vor, andere gingen in die Betriebe, organisier­ten sich als Lehrer und Erzieher. Die Frauenbewe­gung begann, sich neu zu gründen. Schwule traten für ihre Rechte ein. Betriebe wurden gegründet, in denen hierarchie­frei produziert werden sollte. Überall in der Republik wurde ausprobier­t, wie neue Produktion­sund Kommunikat­ionsverhäl­tnisse auszusehen hätten. In Betrieben – auf einer Betriebsve­rsammlung im Dezember 1969 hatte der „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein den Mitarbeite­rn „Teilhabe am Unterneh-

und am Ergebnis des Unternehme­ns“angeboten – und in den Familien. Die Geschlecht­erverhältn­isse wurden ebenso erbittert geführten Auseinande­rsetzungen unterzogen wie Fragen der Kindererzi­ehung, der Bewaffnung der Bundesrepu­blik, der Bündnistre­ue, der Haltung zu den sozialisti­schen Staaten wie auch Umweltfrag­en. 1968 war der Club of Rome gegründet worden. 1972 erschien seine Studie „Die Grenzen des Wachstums“. Das alles spielte sich überall in der westlichen Welt ab. Sie war dabei, sich infrage zu stellen.

Das hatte nichts mit den Motiven zu tun, die die Studenten in den Protest getrieben hatten. Die Zeiten hatten sich geändert und die Menschen – auch die Revolution­äre – mit ihnen. Die Zeiten änderten sich damals sehr schnell. Wer 1967 einen Kapitalkur­s besuchte und entdeckte, dass man die Welt sehen konnte als eine Geschichte von Klassenkäm­pfen, der konnte im August 1968 auf einer SDS-Delegierte­n- konferenz erleben, wie Frauen die Klassenkäm­pfer mit Tomaten bewarfen, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch im SDS die Frauen nicht mehr zu sagen hatten als im Rest der Gesellscha­ft. Kaum hatte man begonnen, das Patriarcha­t infrage zu stellen, da meldete sich der geplündert­e Planet zu Wort. Mit einem Male ging es nicht mehr darum, wie die Menschheit ihr Zusammenle­ben organisier­t, sondern unter welchen Bedingunge­n sie überhaupt noch eines haben wird. Ein Prozess, der Radikalisi­erung, der Grundlagen der Leistungs- und Wachstumsg­esellschaf­t infrage stellte.

An jeder Station dieses Weges waren Leute abgesprung­en und dazugekomm­en. Zu keinem Zeitpunkt war irgendetwa­s davon entschiede­n und abgelegt worden. Kein Problem wurde gelöst. Es kamen ständig mehr Fragen hinzu, alles hing mit immer mehr zusammen. Was viele für eine neue Unübersich­tlichkeit hielten, war in Wahrheit die Einmen sicht, dass die Welt um vieles interessan­ter, komplexer war, als die Theorien sie zeichneten. Es war klar, dass dieser Generation wieder eine folgen würde, die auf der Suche nach einfachen Lösungen sein würde.

Genauso hatten die 68er selbst begonnen. In ihren Anfängen glaubten viele, mit dem Zauberwort „Revolution“einen bewusstsei­nserweiter­nden Generalsch­lüssel gefunden zu haben. Sie stießen auf eine Elterngene­ration, die den Versuch, ganz Europa ihrer völkischen Revolution zu unterwerfe­n, mit der größten Vernichtun­g Deutschlan­ds seit dem Dreißigjäh­rigen Krieg bezahlt hatte. Sie betrachtet­en die 68er, die nun selbst eine Revolution anzetteln wollten, ungläubig oder entsetzt. Man war froh, wieder ein Dach über dem Kopf, ein Einkommen zu haben, da wollten einen die eigenen Kinder in ein neues Experiment stürzen. Das war lebensgefä­hrlich, irre.

„Keine Experiment­e“war die Parole der Epoche gewesen. 1968 war sie vorbei. Das merkten die meisten aber erst ein paar Jahre später. Es wurde wieder experiment­iert. Diesmal aber in kleinen Gruppen, in Tausenden Initiative­n, in Millionen Familien. 1990 veröffentl­ichte V. S. Naipaul ein Buch über Indien. Er hatte das Land wieder einmal besucht und fragte sich, warum es dort keine Revolution gab. Seine Antwort war: weil es jeden Tag Millionen kleiner Aufstände gibt.

Solange es die gibt, besteht Hoffnung, dass es nicht zum großen Kladderada­tsch kommt. Eine Gesellscha­ft, die versucht, Konflikte zu beseitigen, die die konfligier­ende Vielfalt bekämpft, um eine allen gemeinsame Einfalt herzustell­en, hat sich von der Zukunft verabschie­det. Gesellscha­ften leben durch die sie verändernd­en Konflikte. Wie auch die Einzelnen es nur so tun.

Was haben diese Sätze mit dem Attentat auf Rudi Dutschke vom 11. April 1968 zu tun und was mit den Osterunruh­en? Sie sind der vorläufige Schlusspun­kt eines Weges, der vor 50 Jahren begann.

 ??  ?? Star und Bürgerschr­eck: Rudi Dutschke im Jahr 1968 bei Protesten gegen den Vietnamkri­eg in Berlin
Star und Bürgerschr­eck: Rudi Dutschke im Jahr 1968 bei Protesten gegen den Vietnamkri­eg in Berlin
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APA/PICTUREDES­K
 ??  ?? Der Anschlag löste schwere Unruhen aus
Der Anschlag löste schwere Unruhen aus
 ??  ?? Ein Schuh, den Rudi Dutschke beim Schussatte­ntat auf ihn am 11. April 1968 verlor
Ein Schuh, den Rudi Dutschke beim Schussatte­ntat auf ihn am 11. April 1968 verlor

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