Der Brandstifter vor Gericht
Das heutige Berufungsurteil gegen Ultranationalist Vojislav ˇSeˇselj könnte Serbien Probleme bescheren.
Die Anklagebank hinter dem Panzerglas bleibt wieder leer. Wie bei seinem überraschenden Freispruch vor dem UNKriegsverbrechertribunal (siehe Stichwort) in erster Instanz 2016 hegt der serbische Ultranationalist Vojislav Sˇeˇselj keinerlei Absicht, für die Verkündigung des Berufungsurteils nach Den Haag zu reisen.
Den Haag interessiere ihn nicht, „damit bin ich fertig“, sagt der Mann, der von 2003 bis 2014 im Untersuchungsgefängnis des UN-Tribunals saß. Doch möglicherweise muss sich der Chef der nationalistischen SRS wieder damit beschäftigen: Die Ankläger fordern die Annullierung des Freispruchs – und 28 Jahre Haft oder die Wiederaufrollung seines Verfahrens.
Welche Verantwortung hat der Zündler am Brand? Während die Anklage davon überzeugt ist, dass die von Angehörigen der von ihm aufgestellten Freiwilligen-Miliz während des Bosnien- und Kroatienkriegs begangenen Verbrechen nicht zuletzt auf seine Hetzreden zurückzuführen waren, kamen seine Richter in der ersten Instanz zu einem anderen Schluss. Sˇeˇselj habe in der von ihm un- terstützten Miliz, die der Jugoslawischen Armee (JNA) unterstellt gewesen sei, keine hierarchische Position innegehabt, so deren damalige Argumentation. Seine Hassreden seien „zulässiges Mittel zur Anhebung der Kampfmoral“, die von ihm propagierte Schaffung eines Großserbiens ein „politisches, kein kriminelles Projekt“gewesen.
Als skandalös und im Berufungsverfahren kaum haltbar hatten Opferverbände und Bürgerrechtsaktivisten die Urteilsbegründung in erster Instanz kritisiert. Tatsächlich hatte der umstrittene Freispruch vor zwei Jahren wie die triste Krönung des quälend langen Prozesstrauerspiels gewirkt.
Nach Belieben bestimmte Sˇeˇselj, der sich 2003 selbst gestellt hatte, mit endlosen Anträgen und wüsten Tiraden das Geschehen und Tempo des Verfahrens: Nicht nur Ankläger, auch die wechselnden Richter zeigten sich im Umgang mit dem destruktiven Poltergeist völlig überfordert.
Fast schon erleichtert schienen die Tribunal-Offiziellen, als sie Seˇselj ˇ wegen einer angeblich lebensgefährlichen Krebserkrankung und seiner langen Zeit in der U-Haft im November 2014 aus Gesundheitsgründen vorläufig in die Heimat entließen. Doch der von keinerlei Schuldbewusstsein geplagte Nationalist sollte sich hernach an keine der von ihm ohnehin nie akzeptierten Auflagen halten. Einmal verbrannte er eine kroatische Flagge, ein andermal ließ sich der in der Heimat wunderbar genesene Kranke bei einer Hausschlachtung zwischen blutigen Schweinehälften als Balkanschlächter ablichten. Auch weil sich der vermeintliche Oppositionelle Sˇeˇselj mit Angriffen gegen seinen früheren politischen Ziehsohn und heutigen Staatschef Aleksandar Vucˇic´ auffällig zurückhält, ist der politische Stern des eifrig durch Talk-Shows tingelnden Politclowns weitgehend verglüht. Bei den Belgrader Kommunalwahlen im März verfehlte seine SRS mit 2,3 Prozent klar den Einzug in den Stadtrat.