Israel, ein Halbstarker unter lauter Pensionisten
ESSAY. Seit dem Tag seiner Gründung wurde Israel sein Ende vorausgesagt. Nun ist das Land, das nach allen Regeln der Logik nicht existieren dürfte, 70 Jahre alt. Eine Gratulation.
Die Gründung Israels vor 70 Jahren ist das einzige positive Ereignis in der jüdischen Geschichte der letzten 2000 Jahre. Bis dahin haben Juden in aller Welt jedes Jahr zum Pessach-Fest, mit dem an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnert wird, gebetet: „Und nächstes Jahr in Jerusalem!“Heute lebt etwa die Hälfte aller Juden in Israel.
Vermutlich hat es die Massenflucht aus Ägypten, so wie sie im Buch Exodus geschildert wird, niemals gegeben, aber es ist eine schöne, sinnstiftende Geschichte. Ein ganzes Volk macht sich auf den Weg aus der Sklaverei in die Freiheit, wandert 40 Jahre durch die Wüste, um schließlich das Gelobte Land zu erreichen. Für die „40 Jahre“gibt es eine vernünftige Erklärung. Es war in jener Zeit die Lebensspanne einer, vielleicht zweier Generationen. Die Sklaven, die Ägypten hinter sich gelassen hatten, sollten aussterben, ihre Kinder eine Gesellschaft freier Menschen aufbauen. Ein Mythos, könnte man sagen, wie die Geschichte von Wilhelm Tell, die ein deutscher
den Schweizern hinterlassen hat.
Kein Mythos dagegen, sondern brutale Wirklichkeit waren die Pogrome, bei denen die jüdische Population immer wieder dezimiert wurde. Wer überlebte, hatte nicht nur Glück gehabt, sondern auch die Pflicht, die Erinnerung an die Opfer der Massaker wachzuhalten.
Das wohl erste Pogrom auf europäischem Boden fand im Jahre 1066 in Granada statt. Dreißig Jahre später, im Vorfeld des Ersten Kreuzzuges, griffen marodierende Kreuzfahrer die jüdischen Gemeinden von Speyer, Worms und Mainz an. Am Valentinstag des Jahres 1349 wurden in Straßburg über 2000 Juden massakriert. D er rasende Judenhass überlebte den Dreißigjährigen Krieg, die Reformation, den Feudalismus und auch die Aufklärung. Luther hat keinen Juden eigenhändig umgebracht, er rief nur dazu auf, ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anzustecken. Der ukrainische Kosakenführer Bohdan Chmielnicki hat buchstäblich im Blut der
Juden gebadet. Das Pogrom von Kischinew im Jahre 1903, heute Hauptstadt der Republik Moldau, sorgte weltweit für Schlagzeilen, obwohl weniger als 50 Juden umgebracht wurden.
Erst das größte Pogrom der Geschichte, der Holocaust, verhalf der Idee zum Durchbruch, dass die Juden den Anspruch auf einen eigenen Staat haben, der ihnen im Notfall eine Zuflucht bieten und sie beschützen kann. Heute streiten sich Historiker darüber, ob Israel auch entstanden wäre, wenn es den Holocaust nicht gegeben hätte. Die Frage ist ebenso müßig wie die, ob die Nazis den Krieg gewonnen hätten, wenn sie mit dem Versuch einer „Endlösung der Judenfrage“nicht übers Ziel hinausgeschossen wären.
Nun wird Israel 70. Im Vergleich zu Staaten wie England, Frankreich oder Holland befinDichter
det sich das Land noch im Zustand der Adoleszenz. Ein Halbstarker unter lauter Pensionisten. Andererseits: Die Sowjetunion wurde mit 69 zu Grabe getragen, die DDR mit 41. Das baldige Ende des Judenstaates wurde seit dem Tag seiner Gründung vorhergesagt, er sei nicht lebensfähig, sagten die Auguren, zu klein, zu schwach, zu unbedeutend, umgeben von Feinden und „ein Brückenkopf des Imperialismus I im Nahen Osten“. srael ist der einzige Staat der Welt, für den Deutschland eine Bestandsgarantie abgegeben hat. Die Sicherheit des Judenstaates sei Teil der deutschen Staatsräson. Israel ist auch der einzige Staat der Welt, über dessen „Existenzrecht“ständig debattiert wird, entweder in der Form der Ablehnung oder der Zustimmung, in jedem Fall aber immer am Rand des
Absurden, da sich niemand eine solche Frage mit Blick auf Portugal, Sri Lanka oder das Königreich Tonga stellen würde.
Die deutsche Beistandsgarantie ist natürlich reine Rhetorik, sie hat zudem einen historischen Hintergrund, der immer blasser wird – den Holocaust. Wörtlich genommen bedeutet das: Ohne den Holocaust, den wir angerichtet haben, wäre uns Israel wurscht und schnuppe. Es könnte im Meer verschwinden oder hinter den Karawanken, es ginge uns nichts an.
Man muss den zahlreichen „Israelexperten“freilich zugutehalten, dass sie überfordert sind. Es ist in der Tat nicht einfach, Israel zu verstehen. Es ist keine Theokratie, aber auch keine säkulare Republik. Es hat eine funktionierende Gewaltenteilung, findet aber auch nach 50 Jahren Besatzung keine Formel für den Um- gang mit den Palästinensern jenseits der „grünen Linie“. Es ist offiziell für die Zwei-Staaten-Lösung, tut aber alles, um sie zu verhindern. Was wiederum der kleinste gemeinsame Nenner mit den Palästinensern ist, die sich eine Zwei-Staaten-Lösung so sehr wünschen wie Allergiker I eine Ambrosia-Invasion. srael ist nicht voller Widersprüche, wie uns die Korrespondenten jeden Tag versichern, es ist der perfekte Widerspruch an sich. Ein Land, das es nach allen Regeln der Logik und der politischen Wissenschaft nicht geben dürfte. Kein „Licht für die Völker der Welt“, wie es im Buch Jesaja heißt, aber immerhin ein Hoffnungsschimmer in einer langen, unheilvollen Geschichte.
Dieser Text erschien zuerst in der Tageszeitung „Die Welt“.