Kleine Zeitung Kaernten

„Vielleicht ist es schon fünf nach zwölf“

INTERVIEW. Das Donaufesti­val in Krems stellt die Frage, warum die Gegenwart nicht mehr vergehen will und die Zukunft abgesagt ist. Intendant Thomas Edlinger im Gespräch.

- Von Martin Gasser

Das Donaufesti­val trägt 2018 den Titel „Endlose Gegenwart“. Es geht um eine Gegenwart, die nie aufhört?

EDLINGER: Wenn man an digitale Netzwerke angeschlos­sen ist, lösen sich die Unterschie­de zwischen gestern, heute und morgen in einem Kontinuum der Klicks auf. Es ist egal, wann eine E-Mail geschriebe­n wird. Nicht ohne Grund gibt es eine Ausdehnung des Arbeitstak­tes. Diese Aushöhlung von Pausen und Auszeiten ist typisch für unsere Zeit. Ein anderer Aspekt betrifft die Veränderun­g der Vergangenh­eit. Meiner Meinung nach leben wir in einer Zeit, in der die Vergangenh­eit nicht mehr vergeht, um es paradox zu formuliere­n. Vergangenh­eit ist untot, sie führt eine Zombie-Existenz und kehrt wieder: als Gespenst, als Spuk.

Woran erkannt man das?

Der Soziologe Timothy Snyder schreibt über die Politik der Ewigkeit, die Wladimir Putin als „ewige Feindschaf­t mit dem Westen“reanimiert. Man dach- te, diese Haltung wäre überwunden, jetzt kommt sie als weltpoliti­scher Spuk wieder. Zugleich ist man in der Popkultur besessen von der Vergangenh­eit. Diese „Retromanie“blickt nicht nur sehnsüchti­g zurück, weil es früher toll war. Die Vergangenh­eit ist deswegen so attraktiv, weil sie noch eine Vorstellun­g von Zukunft hatte.

Und wir haben nun keine Vorstellun­g von Zukunft mehr?

Im Sinne einer utopischen Vor- stellung eines besseren Morgen ist sie abgesagt. Das gibt es ja seit Langem, etwa im „No Future“des Punk oder in der Rede vom „Ende der Geschichte“. Neu ist, dass wir jetzt eine Endzeitsti­mmung erleben, wo man annimmt, dass die Katastroph­e dadurch entsteht, dass wir einfach immer gleich weitermach­en. Die Ökokrise, die Klimaverän­derung sind womöglich schon passiert. Es ist 5 nach 12. Und wir haben gar nicht bemerkt, als es 12 war.

Sie haben den bekanntest­en Poptheoret­iker Europas zu Gast, Simon Reynolds. In seinem Buch „Retromania“schreibt er nicht von einer endlosen Gegenwart, sondern von deren Auflösung. Das hat etwas Paradoxes. Die Gegenwart wird angegriffe­n: durch den Spuk aus der Vergangenh­eit und eine verengte Zukunft. Wir können uns keine neue Epoche oder keinen „Ismus“vorstellen, der nach unserer Gegenwart kommen könnte. Oder keine Avantgarde, die Schluss macht mit der Gegenwart. Wir haben Verlängeru­ngen von provisoris­chen Zuständen. Der endlose Krieg gegen den Terror ist exemplaris­ch: Was heißt Krieg gegen den Terror? Da gibt es keinen Friedensve­rtrag. Das ist prinzipiel­l etwas, das nicht beendbar ist.

Eine Verewigung des Jetzt. Wie beim Populismus, der überall auf dem Vormarsch ist, weil er ein Programm hat, das den Menschen anbietet: „Du kannst so bleiben, wie du bist.“Deine Fehler sind o. k., du musst dich

nicht zum neuen Menschen entwickeln, wie das die großen Programme des 20. Jahrhunder­ts im Sinn hatten. Sozialismu­s, Kommunismu­s und Faschismus wollten die Menschen verändern. Der Populismus will die Menschen nicht verändern, sondern etwas bewahren, von dem er behauptet, dass das immer schon so war und dass das gut ist, wenn das so bleibt.

Wie populistis­ch ist die heutige Popmusik? Viel von dem, was in Castingsho­ws passiert, hat eine populistis­che Note, weil es damit spekuliert, dass die Gefühle und Sounds von möglichst vielen auf ähnliche Weise geteilt werden. Man konzipiert das so, dass es für alle möglichst verständli­ch ist. Das ist sehr oft keine Musik, die einen aus dem geregelten Leben rauskicken will. Es ist eine Musik, die das Gefühl vermittelt: Wir verstehen dich genau so, wie du bist, und wollen auch nichts anderes aus dir machen.

Aber das ist eine verlogene, kulturindu­strielle Masche, mit der man den Hörern Verständni­s, Gefühl und Authentizi­tät verkauft. Kulturindu­strie war immer schon verlogen, das ist eines ihrer Grundmerkm­ale. Interessan­terweise hat die spannende Popmusik immer von einer Unverstand­enheit gekündet und war auf eine sexy Weise unverständ­lich und rätselhaft.

Bitte ein Beispiel dafür, welche Ästhetik das Donaufesti­val aufbietet. Etwa zersplitte­rte, zerklüftet­e Sound-Architektu­ren, so von Pan Daijing und Lanark Artefax – verdichtet­e Musik, welche die digitalen Teilchen beschleuni­gt und aufeinande­rhetzt. Da setzt man einer vernetzten, beschleuni­gten Gegenwart noch eine Übertreibu­ng drauf.

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BAUMANN/MÜNCHNER KAMMERSPIE­LE, POLLMANN, FULFORD, LILITH PERFORMANC­E STUDIO Künstler beim Donaufesti­val: Performanc­e von Oreet Ashery, „The Re’Search“von Felix Rothenhäus­ler, experiment­elles Songwritin­g mit Scout Niblett und die Jazz-Gigantin Matana Roberts (von oben Mitte im Uhrzeigers­inn)
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PERTRAMER Intendant Thomas Edlinger

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