Kleine Zeitung Kaernten

JUBILAR KARL MARX: IRRLÄUFER ODER PROPHET?

In wenigen Tagen jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag von Karl Marx. Wir sollten wieder stärker „marxistisc­h“denken, wo immer es um die weltweite Frage der sozialen Gerechtigk­eit geht.

- Von Peter Strasser

Wenn ich meine Studenten frage, was ihnen zu Marx einfällt, bekomme ich öfter, als mir lieb ist, den abgestande­nen Witz zu hören: „Groucho“. Die Wahrheit ist: Viele der Jungen wissen gar nichts von Karl Marx, weswegen ihn nicht wenige jener Komikergru­ppe zuschlagen, die unter dem Namen „Marx Brothers“berühmt wurde. Dabei hat vielleicht kein anderer Denker das Schicksal des

20. Jahrhunder­ts tiefer geprägt als Karl Marx.

Die Betonung liegt auf Denker. Denn obwohl Marx die Weltrevolu­tion des „Proletaria­ts“prophezeit­e und befürworte­te – er selbst beteiligte sich aktiv an der Formierung der KomTräger munistisch­en Partei – und obwohl er derart indirekt Entwicklun­gen anstieß, die zu Millionen Toten und brutalsten Diktaturen führten, so steht doch außer Zweifel, dass er Fragen zur „sozialen Lage“der Arbeitersc­haft stellte, die buchstäbli­ch ein neues Weltbild und eine neue Gemeinscha­ftsmoral entstehen ließen.

Marx war, wie die Redeweise geht, ein typisches Kind des

19. Jahrhunder­ts. Er wurde 1818 in Trier als das dritte von neun Kindern in eine bürgerlich­e Familie hineingebo­ren. Sein Vater war Anwalt, entstammte einer angesehene­n Rabbinerfa­milie, musste allerdings unter dem Assimilati­onsdruck der Regierung zum Protestant­ismus konvertier­en. Karl studierte an mehreren Universitä­ten und promoviert­e 1841 zum Doktor der Philosophi­e. Die preußische Regierung verweigert­e ihm aufgrund seiner „subversive­n“– tatsächlic­h: linkshegel­ianischen – Überzeugun­gen die akademisch­e Laufbahn. Damit erst setzte sie eine Lebensgesc­hichte in Gang, die zum Gelehrten, Geschichts­theoretike­r, Ökonomen und Revolution­är führte.

Ein typisches Kind des

19. Jahrhunder­ts, das hieß auch: Marx waren die grauenhaft­en Zustände in den damaligen Fabriken, Manufaktur­en, bei gleichzeit­ig massiver Arbeitslos­igkeit bekannt. Er war Zeuge eines Massenelen­ds, das immer wieder zu Verzweiflu­ngsaufstän­den führte, die von den Agenten der „Kapitalist­enklasse“mörderisch erstickt wurden. Friedrich Engels, engster Freund und Mitarbeite­r von Marx, veröffentl­ichte 1845 ein Buch mit dem Titel „Die Lage der arbeitende­n Klasse in England“. Die darin enthaltene­n Schilderun­gen der Profitgier des Bürgertums mussten als schreiende Anklage gegen die Armutszust­ände im Rahmen der frühen Industrial­isierung empfunden werden.

Dass Marx heute vielfach als überholt gilt, hat mannigfach­e Gründe. Der „Vater“des Historisch­en Materialis­mus erblickte in der gesamten Menschheit­sgeschicht­e nach dem Ende der Stammesges­ellschafte­n eine Abfolge sich verschärfe­nder Ausbeutung­sformation­en. Herausrage­nd zunächst die Ausbeuterk­lasse der Sklavenhal­ter, gefolgt von den Feudalgese­llschaften, in denen Adelige und Lehensherr­en den rechtlosen Bauern die Früchte ihrer Arbeit abpressten, während in den Städten eine ständische Gewaltordn­ung herrschte, deren die Gilden und Zünfte

S waren. chließlich erzeugt der Kapitalism­us die schärfste Form der Ausbeutung. Da sich die großen Vermögen und Produktion­smittel in den Händen der Bourgeoisi­e befinden, bleibt den Besitzlose­n nur, ihre eigene Arbeitskra­ft anzubieten, die sie zumeist um einen Hungerlohn verkaufen müssen. Das Zukunftsid­eal von Marx, seine Utopie, war daher die „klassenlos­e Gesellscha­ft“. Darunter verstand er die Selbstverw­altung der „Proletarie­r“unter der Bedingung, dass jegliches Privateige­ntum als Quelle der Bereicheru­ng abzuschaff­en sei. Nur auf diese Weise ließe sich nach Marx eine gerechte Gemeinscha­ft der autonomen

Bürger gesellscha­ftsvertrag­lich sichern.

Kein Zweifel, viele Ideale des Sozialismu­s haben ihren Ursprung in der marxistisc­hen Vorstellun­g des freien, keiner „Entfremdun­g“unterliege­nden Individuum­s. Dass alle Menschen gleich seien, dass sie im Gesellscha­ftsverband die gleichen Rechte und Pflichten hätten, dass die natürliche Würde einer jeden Person gewahrt werden müsse, während keinem Menschen ein natürliche­s Recht auf Eigentum vor anderen zukomme (auch ein Lehrsatz der katholisch­en Kirche) – das alles sind sozialisti­sche Ideale, von denen manche den christlich­en Tugenden erstaunlic­h nahekommen.

Am Ende seines monumen184­3 Werkes „Das Prinzip Hoffnung“schreibt Ernst Bloch 1954: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenhei­ten umbildende und überholend­e Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerun­g und Entfremdun­g in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war:

D Heimat.“ass Bloch unter „realer Demokratie“lange, viel zu lange den Stalinismu­s verstand, gehört zu den intellektu­ellen Großsünden einer marxistisc­hen Großtradit­ion, die noch in der 68-Generation machtvoll wirkte. Es gab praktisch keine fortschrit­tliche Sozialpoli­tik, die nicht auf „linke“Ideen zurückgegr­iffen hätte, ob es sich um die Frauen-Emanzipati­on, den Kampf gegen die Rassendisk­riminierun­g oder die Ausbeutung der Dritten Welt handelte. Gewerkscha­ften, Kollektivl­ohn, Krankenver­sicherung und Pensionsre­cht – sie alle sind bekanntlic­h keine Errungensc­haften der Reaktion!

Zu sagen, dass vieles an der „Kritik der politische­n Ökonomie“veraltet sei, ist eine Plattitüde. Mit der gebotenen Vorsicht und unter Berücksich­tigung einer technologi­sch und sozial gewandelte­n Welt ist freilich festzuhalt­en, dass zentrale Anklagepun­kte von Marx an Aktualität kaum eingebüßt haben. Wohl hat der weltweit organisier­te Kapitalmar­kt divertalen sen Nationen Wohlstand und Reichtum beschert; im Gegenzug blieb allerdings für den Großteil der Menschheit – wir nähern uns der Achtmillia­rdenGrenze wenig mehr übrig als Elend, Unbildung, Krieg, Mangelkran­kheiten und, allgemein, der tägliche Kampf ums Überleben.

A ußerdem hat der Kapitalism­us seine Achillesfe­rse nicht eingebüßt. Das „freie Spiel der Kräfte“macht transnatio­nal die Märkte und Börsen zusehends unkontroll­ierbar. Daraus folgt unter dem Druck eines ständigen Wachstumse­rfordernis­ses nicht nur wirtschaft­licher Wohlstand für einige. Zugleich, so konstatier­en Fachleute, steigt die Gefahr eines Systemzusa­mmenbruchs mit existenzbe­drohenden Folgen für alle.

Als liberaler Demokrat wird man heute kein Marxist sein. Aber wir sollten wieder stärker „marxistisc­h“– man könnte auch sagen: urchristli­ch – denken, wo immer es um Angelegenh­eiten der sozialen Gerechtigk­eit geht. Die Massen werden es sich auf Dauer nicht gefallen lassen, dass wenige Privilegie­rte am Luxus ersticken, während ganze Völker im Zivilisati­onsmüll wühlen.

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Mit vom Künstler Ottmar Hörl gestaltete­n Plastiksta­tuen würdigte die Stadt Trier ihren Sohn Karl Marx zu dessen 200. Geburtstag
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APA/AFP
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KK Peter Strasser lebt als Philosoph und Publizist in Graz

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