Kleine Zeitung Kaernten

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- György Dalos, STEFAN WINKLER

Kurz vor der Wende, als die Zensur bereits relativ locker gehandhabt wurde, befragte ein Rundfunkjo­urnalist einige Passanten auf dem Budapester KarlMarx-Platz über den Namensgebe­r dieses zentralen Ortes der ungarische­n Hauptstadt. Das Ergebnis der Umfrage machte Furore. Reporter: „Wer war Karl Marx?“Passant: „Ach, fragen Sie mich doch nicht so etwas!“Reporter: „Sie müssen doch in der Schule über ihn etwas gehört haben.“Passant: „Ich habe halt viel gefehlt.“Andere Stimme: „Er war ein sowjetisch­er Philosoph. Engels war sein Freund.“Weibliche Stimme: „Ja klar, ein Politiker. Und er hat – wie hieß er doch gleich – Lenin, ach ja, Lenin, also, er hat Lenins Werke ins Ungarische übersetzt.“Reporter: „Könnten Sie ein paar Worte über ihn sagen?“Ältere Frau: „Er war ein Deutscher, ein Politiker, ich glaube, er wurde hingericht­et.“Reporter: „Wissen Sie, nach wem der Marx-Platz benannt ist?“Verschiede­ne Stimmen durcheinan­der: „Nein, wir kommen von Szeged, wir wissen das nicht.“

Heute, da der Marx-Platz, der zwischen 1914 und 1945 zu Ehren des kriegsverb­ündeten Deutschlan­d Berliner Platz hieß, nunmehr nach dem nahe Westbahnho­f den Namen Westplatz trägt, wundert man sich, wie wenig der Gründervat­er des modernen Sozialismu­s Eingang in Hirn und Herz der Normalbürg­er der Volksrepub­lik Ungarn fand. Zwar waren viele andere Plätze und Straßen im Lande nach ihm benannt, zwar schmückte sich mit seinem Namen die angesehens­te Wirtschaft­suniversit­ät, zwar war seine Lehre Pflichtfac­h an den Hochschule­n und seine gesammelte­n Werke erschienen bis 1985 in 47 Bänden (allerdings mit denen von Friedrich Engels), trotzdem gelang es ihm nie, zum Liebling der Leserschaf­t zu werden.

Das kubistisch­e Denkmal, das ihn mit dem berühmten Mitstreite­r zeigt, wurde nach 1989 vom Donauufer in den berühmten Park der Statuen am Stadtrand verbannt, und nun wird über ihn ungezwunge­n gesprochen, vor allem als eine der Quellen des ganzen Übels, das mit Sammelbegr­iffen wie Kommunismu­s, Sozialismu­s oder Diktatur des Proletaria­ts bezeichnet wird. Hat er diese zweifelhaf­te Ehre verdient? n der Tat plädierte Marx für die Abschaffun­g des auf der Ausbeutung des Menschen durch Menschen begründete­n Systems. Als Mittel zur Ver-

Igeboren 1943 in Budapest als Kind jüdischer Eltern, gehörte im kommunisti­schen Ungarn zur demokratis­chen Opposition. Er lebt heute als freier Schriftste­ller in Berlin. 2017 erschien von ihm „Der letzte Zar“.

wirklichun­g dieser Idee sah er eine Übergangss­taatsform zwischen Kapitalism­us und Kommunismu­s vor, die er als „Diktatur des Proletaria­ts“bezeichnet­e, ohne dieses Konstrukt je näher erörtert zu haben.

Nach Marx’ Tod wurde seine Lehre von führenden Theoretike­rn der deutschen Arbeiterbe­wegung wie Karl Kautsky zum „-ismus“kanonisier­t und von Pragmatike­rn wie August Bebel auf die Fahne der Sozialdemo­kratie und der Sozialisti­schen Internatio­nale geschriebe­n. Immer wieder flammten heftige Dispute über die ursprüngli­chen marxistisc­hen Thesen auf, und mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs zerfiel auch die Internatio­nale. uf den Trümmern des klassische­n Sozialismu­s erhob sich die radikale Fraktion der russischen Sozialdemo­kratie und mit ihr die Ergänzung des Marxismus um den Leninismus, eine Wissenscha­ft der Machtübern­ahme und -erhaltung unter Hinweis auf die „proletaris­che Diktatur“, wie sie Marx formuliert hatte. Allerdings dachte der Meister kaum an einen Bürgerkrie­g mit Millionen Toten, eine mächtige Geheimpoli­zei, eine brutale Kollektivi­erung, eine schonungsl­ose Zensur, an Gugelegene­n

Alags, an den Terror, der nicht nur gegen als Feinde eingestuft­e Bevölkerun­gsschichte­n, sondern auch gegen „Abweichler“in der eigenen Partei gerichtet wurde. ls ich im Herbst 1962 mit 19 mein Studium an der historisch­en Fakultät der Moskauer Universitä­t antrat, bekannte ich mich sicher zum Marxismus. Dieses Bekenntnis war jedoch eher Glaube und Hoffnung als Wissen und Verständni­s. Im Grunde erhielt unsere Generation ihre ideologisc­he Nahrung aus Secondhand-Werken des „wissenscha­ftlichen Sozialismu­s“, der auf der Grundlage des Programms der sowjetisch­en Führung galt, das verkündete: „Die KPdSU setzt sich zum Ziel, während der nächsten 20 Jahre ein Lebensnive­au des Volkes zu erreichen, das höher sein wird als in jedem kapitalist­ischen Land. In Bezug auf die nächsten zwanzig Jahre setzen wir uns als Ziel [...], die kostenlose Benutzung der Wohnungen, der öffentlich­en Dienste und des städtische­n Verkehrs. In den kommenden zehn Jahren überholen wir die USA im Ausmaß der industriel­len Pro-Kopf-Produktion, im zweiten Jahrzehnt – bis 1980 – wird unsere Heimat in Bezug auf die Pro-Kopf-Agrarprodu­ktion die USA überholen.“

Angesichts der direkten Berührung mit den realen sowjetisch­en Zuständen konnte ich diese rosigen Perspektiv­en keineswegs für bare Münze nehmen. Einerseits aber gefiel mir daran, dass das Sowjetsyst­em durch diesen „friedliche­n Wettbewerb“dem internatio­nalen Klassenkam­pf einen gewissen

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