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Kurz vor der Wende, als die Zensur bereits relativ locker gehandhabt wurde, befragte ein Rundfunkjournalist einige Passanten auf dem Budapester KarlMarx-Platz über den Namensgeber dieses zentralen Ortes der ungarischen Hauptstadt. Das Ergebnis der Umfrage machte Furore. Reporter: „Wer war Karl Marx?“Passant: „Ach, fragen Sie mich doch nicht so etwas!“Reporter: „Sie müssen doch in der Schule über ihn etwas gehört haben.“Passant: „Ich habe halt viel gefehlt.“Andere Stimme: „Er war ein sowjetischer Philosoph. Engels war sein Freund.“Weibliche Stimme: „Ja klar, ein Politiker. Und er hat – wie hieß er doch gleich – Lenin, ach ja, Lenin, also, er hat Lenins Werke ins Ungarische übersetzt.“Reporter: „Könnten Sie ein paar Worte über ihn sagen?“Ältere Frau: „Er war ein Deutscher, ein Politiker, ich glaube, er wurde hingerichtet.“Reporter: „Wissen Sie, nach wem der Marx-Platz benannt ist?“Verschiedene Stimmen durcheinander: „Nein, wir kommen von Szeged, wir wissen das nicht.“
Heute, da der Marx-Platz, der zwischen 1914 und 1945 zu Ehren des kriegsverbündeten Deutschland Berliner Platz hieß, nunmehr nach dem nahe Westbahnhof den Namen Westplatz trägt, wundert man sich, wie wenig der Gründervater des modernen Sozialismus Eingang in Hirn und Herz der Normalbürger der Volksrepublik Ungarn fand. Zwar waren viele andere Plätze und Straßen im Lande nach ihm benannt, zwar schmückte sich mit seinem Namen die angesehenste Wirtschaftsuniversität, zwar war seine Lehre Pflichtfach an den Hochschulen und seine gesammelten Werke erschienen bis 1985 in 47 Bänden (allerdings mit denen von Friedrich Engels), trotzdem gelang es ihm nie, zum Liebling der Leserschaft zu werden.
Das kubistische Denkmal, das ihn mit dem berühmten Mitstreiter zeigt, wurde nach 1989 vom Donauufer in den berühmten Park der Statuen am Stadtrand verbannt, und nun wird über ihn ungezwungen gesprochen, vor allem als eine der Quellen des ganzen Übels, das mit Sammelbegriffen wie Kommunismus, Sozialismus oder Diktatur des Proletariats bezeichnet wird. Hat er diese zweifelhafte Ehre verdient? n der Tat plädierte Marx für die Abschaffung des auf der Ausbeutung des Menschen durch Menschen begründeten Systems. Als Mittel zur Ver-
Igeboren 1943 in Budapest als Kind jüdischer Eltern, gehörte im kommunistischen Ungarn zur demokratischen Opposition. Er lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. 2017 erschien von ihm „Der letzte Zar“.
wirklichung dieser Idee sah er eine Übergangsstaatsform zwischen Kapitalismus und Kommunismus vor, die er als „Diktatur des Proletariats“bezeichnete, ohne dieses Konstrukt je näher erörtert zu haben.
Nach Marx’ Tod wurde seine Lehre von führenden Theoretikern der deutschen Arbeiterbewegung wie Karl Kautsky zum „-ismus“kanonisiert und von Pragmatikern wie August Bebel auf die Fahne der Sozialdemokratie und der Sozialistischen Internationale geschrieben. Immer wieder flammten heftige Dispute über die ursprünglichen marxistischen Thesen auf, und mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs zerfiel auch die Internationale. uf den Trümmern des klassischen Sozialismus erhob sich die radikale Fraktion der russischen Sozialdemokratie und mit ihr die Ergänzung des Marxismus um den Leninismus, eine Wissenschaft der Machtübernahme und -erhaltung unter Hinweis auf die „proletarische Diktatur“, wie sie Marx formuliert hatte. Allerdings dachte der Meister kaum an einen Bürgerkrieg mit Millionen Toten, eine mächtige Geheimpolizei, eine brutale Kollektivierung, eine schonungslose Zensur, an Gugelegenen
Alags, an den Terror, der nicht nur gegen als Feinde eingestufte Bevölkerungsschichten, sondern auch gegen „Abweichler“in der eigenen Partei gerichtet wurde. ls ich im Herbst 1962 mit 19 mein Studium an der historischen Fakultät der Moskauer Universität antrat, bekannte ich mich sicher zum Marxismus. Dieses Bekenntnis war jedoch eher Glaube und Hoffnung als Wissen und Verständnis. Im Grunde erhielt unsere Generation ihre ideologische Nahrung aus Secondhand-Werken des „wissenschaftlichen Sozialismus“, der auf der Grundlage des Programms der sowjetischen Führung galt, das verkündete: „Die KPdSU setzt sich zum Ziel, während der nächsten 20 Jahre ein Lebensniveau des Volkes zu erreichen, das höher sein wird als in jedem kapitalistischen Land. In Bezug auf die nächsten zwanzig Jahre setzen wir uns als Ziel [...], die kostenlose Benutzung der Wohnungen, der öffentlichen Dienste und des städtischen Verkehrs. In den kommenden zehn Jahren überholen wir die USA im Ausmaß der industriellen Pro-Kopf-Produktion, im zweiten Jahrzehnt – bis 1980 – wird unsere Heimat in Bezug auf die Pro-Kopf-Agrarproduktion die USA überholen.“
Angesichts der direkten Berührung mit den realen sowjetischen Zuständen konnte ich diese rosigen Perspektiven keineswegs für bare Münze nehmen. Einerseits aber gefiel mir daran, dass das Sowjetsystem durch diesen „friedlichen Wettbewerb“dem internationalen Klassenkampf einen gewissen
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