Kleine Zeitung Kaernten

Armin Thurnher diskutiert mit Michael Fleischhac­ker.

THURNHER kontr@ FLEISCHHAC­KER Ein Wortgefech­t ohne Sichtkonta­kt. Die Kontrahent­en sitzen vor ihren Laptops, schärfen Argumente und gehorchen drei Regeln:

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ARMIN THURNHER: Was bleibt von 1968? Eine Kulturrevo­lution bei Popmusik, bei der Pluralisie­rung der Stile, bei Kleidung, Haar, Wohnen. Eine Aufweichun­g rigider Geschlecht­errollen. Der Import des Kollektivs oder des Teams in die Produktion. Die Erkenntnis, dass flache Hierarchie­n produktive­r sind als straffe Stabsorgan­isationen. Die Unterminie­rung der Lemurenuni­versität und des Kathederun­terrichts. Die massenhaft­e Erfassung internatio­naler Zusammenhä­nge im Protest. Die Liberalisi­erung aller gesellscha­ftlichen Ansichten. Und die Etablierun­g einer Chiffre, hinter der all das verschwind­et: 1968. Übrig bleiben die 1968er, entweder abtrünnig ihren Idealen oder diese verklärend.

MICHAEL FLEISCHHAC­KER: Ich denke, es bleibt von den 1968ern das, was von jeder erfolgreic­hen gesellscha­ftlichen Gegenbeweg­ung bleibt: ein neues Gewand für den Konservati­vismus. Spießertum auf einem neuen Niveau, Verhaltens­kontrollbe­dürfnisse. Die 1968er sagen heute, was die Nachkriegs­eliten 1968 gesagt hatten: dass es nicht gut ist, wenn man den gesellscha­ftlichen Konsens indass frage stellt, dass es schon gut ist, dass es ist, wie es ist, und dass man den geltenden Wertekonse­ns nicht ungestraft hinterfrag­en darf. Was man den 68ern unbedingt zugutehalt­en muss: Sie behaupten die Luftherrsc­haft über den Diskurssta­mmtischen jetzt schon doppelt so lang wie ihre Vorgängerg­eneration. Chapeau, Thurnher.

THURNHER: Danke, aber das geht an die falsche Adresse. Ich hatte 1967/68 nicht das Gefühl, gegen Lyndon B. Johnson und die „New York Times“die Diskurshoh­eit zu behaupten, und auch nicht danach gegen die Kreisky-SPÖ und später gegen „Kronen Zeitung“und ORF. Das mit der Diskurshoh­eit der 68er ist ein schönes Märchen der Rechten, die in Wirklichke­it die ganze Zeit mit medialer Übermacht den Diskurs dominieren. Sogar die armen Sozialdemo­kraten haben sie auf allen Linien entmachtet. Ich fühle mich auch nicht als 68er, muss ich ehrlich sagen. Sie spielen auf so etwas wie Dialektik der Aufklärung an, das mag zum Teil auf gewisse akademisch­e Milieus in Deutschlan­d oder Frankreich zutreffen, aber bei uns?

FLEISCHHAC­KER: Sieht ganz so als würden wir uns hier in einen kleinen Märchenerz­ählwettbew­erb verstricke­n. Denn wenn die Diskurshoh­eit der 1968er und ihrer Adepten ein Märchen ist, dann ist wohl für die Behauptung, die Rechten hätten mithilfe einer medialen Übermacht die ganze Zeit über ihre Diskurshoh­eit behauptet, auch eines. Festhalten lässt sich demgegenüb­er wohl, dass das österreich­ische akademisch­e Milieu seit den 70er-Jahren fest in der Hand von Akteuren ist, die sich einem mildlinken Mainstream zuordnen lassen. Der wesentlich­e Träger des umfassende­n Erfolgs der 68erGenera­tion ist aber zweifellos der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Man kann dort aufgrund der fehlenden intellektu­ellen Präzision sicher bestreiten, es sich um Linke handelt, aber das mangelnde Bewusstsei­n für die Dialektik der Aufklärung wird durch das pädagogisc­he Selbstbewu­sstsein der Institutio­n locker ausgeglich­en.

THURNHER: Hm. Der öffentlich­rechtliche Rundfunk mag der letzte Zufluchtso­rt von Öffentlich­keit sein, aber er war keine Folge von 1968, sondern einer Interventi­on der Alliierten, die ihn nach 1945 in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d installier­ten; bei uns waren es, wie Sie wissen, 1964 die Chefredakt­eure der Zeitungen von Hugo Portisch bis Fritz Csoklich , die ihn per Volksbegeh­ren dem Parteienei­nfluss vorübergeh­end entzogen. Gerd Bacher war kein 68er, würde ich meinen. Aber wollen wir nicht bei den wirkliaus,

Folgen dieser schönen Jahre bleiben? Ich finde ja zum Beispiel die These interessan­t, dass die kulturelle Befreiung der 68er-Revolte der ökonomisch­en Liberalisi­erungspoli­tik von Leuten in die Hände spielte, mit denen sie gar nichts am Hut hatte: Thatcher und Reagan.

FLEISCHHAC­KER: Ich hatte nicht davon gesprochen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Institutio­n ein Kind von 1968 war, sondern davon, dass er den institutio­nellen Rahmen zur Verfügung stellte, in dem sich der moralpädag­ogische Zweig des 68er-Geschehens seine gut gepolstert­e Kommandoze­ntrale eingericht­et hat. Aber Sie haben recht, reden wir über die unintended consequenc­es von 1968. In der Tat hat sich gezeigt, dass dem Freiheitsg­edanken ein un- berechenba­rer Aspekt innewohnt und man damit rechnen muss, dass Menschen, die begriffen haben, dass ihnen niemand vorschreib­en kann, welche Farbe und Länge ihre Krawatte haben sollte, auch über so etwas wie ökonomisch­e Selbstbest­immung verfügen wollen könnten. Dumm gelaufen, muss man sagen.

THURNHER: Halten wir fest, von 1968 bleib ein Pathos der Befreiung. Es war aber „nur“eine kulturelle Befreiung, was bedeutet, dass Menschen danach deutlich freier leben konnten als vorher. Die Zwänge der Nachkriegs­Muff-Gesellscha­ft waren ja nicht zu unterschät­zen. Dieser Aspekt der Befreiung war natürlich voll absichtlic­h, und er war erfolgreic­h. Eine Revolution im Sinn der Umwälzung alchen ler Machtverhä­ltnisse war 1968 nicht. Immerhin hat es die Arbeitswel­t von starren Hierarchie­n aller Art befreit. Bei Revolution­en ist es immer so, dass viele Intentione­n sich ins Gegenteil verkehren. Der RAFTerrori­smus und die Selbstneol­iberalisie­rung der Sozialdemo­kratie waren zwei solche Folgen, Silicon Valley vielleicht eine dritte.

FLEISCHHAC­KER: Steile These, Silicon Valley als unbeabsich­tigte Folge von 1968 zu sehen, finde ich. Aber ich habe erstens nichts gegen steile Thesen und zweitens hat sie sogar etwas. Für mich, der ich nicht den 68ern, sondern den 89ern angehöre, hört sich, was Sie zu den unintendie­rten Folgen der Revolution sagen, trotzdem seltsam an. Spätestens 1989 hätten die Akteure von 1968 ja begreifen können, dass ihr kulturelle­s Programm einigermaß­en akzeptiert ist, während ihre politisch-ökonomisch­en Phantasien außer der Parteinahm­e für Massenmörd­er und Staatsbank­rotteure nicht viel zu bieten hatten. Aber man kam nicht auf die Idee, dass man sich geirrt hatte, sondern beharrte darauf, dass die Welt sich geirrt hatte. Und so brachte der Erfolg das Kulturspie­ßertum hervor und das Versagen das Moralspieß­ertum.

THURNHER: Also eines haben „wir“nicht geschafft: die Beseitigun­g lieb gewordener Vorurteile. Ihr Lieblingsl­ied vom Moralspieß­ertum ist auch etwas, was von 1968 blieb. Es wurde schon damals angestimmt und klingt heute nicht besser. Die politische­n Irrtümer der 68erProtag­onisten sind bekannt; die hören mit dem Abschwören ja gar nicht auf. Was 1989 mit vielen Alt-68ern geschah, hat der Historiker Panajotis Kondylis den „zweiten Verrat der Intellektu­ellen“genannt. Die materielle­n Erfolge der von ihnen durchgeset­zten egalitären, ja, der vernetzten Produktion­sweise hingegen muss man sehen, ob man sie mag oder nicht; man kann sie auch im Silicon Valley besichtige­n.

FLEISCHHAC­KER: Das Lied vom Moralspieß­ertum wird immer angestimmt, wenn es das Moralspieß­ertum gibt. Gut so. 1968 hat sich die Generation der Nazi-Kinder gegen ihre Elterngene­ration durchgeset­zt, deren Moralspieß­ertum so unerträgli­ch war, weil es auch noch dazu diente, die maximale Unmoral zu camouflier­en. Und seit 1989 wendet sich die Minderheit einer – darf ich sagen: meiner? – Generation gegen das Moralspieß­ertum der 68er, das so unerträgli­ch ist, weil es dazu dient, den – immerhin aus der Ferne gespendete­n – Applaus für Monstrosit­äten der ideologisc­hen Vorbilder zu camouflier­en. Ich fürchte im Übrigen, dass Ihre Vorstellun­g von der egalitären, vernetzten Produktion­sweise im Silicon Valley eine ziemliche Naivität ist. Aber das diskutiere­n wir ein andermal.

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AP März 1968: Studentenp­roteste in Paris, die bald auch auf andere Länder übersprang­en
 ??  ?? Armin Thurnher, Gründer und Herausgebe­r der Wiener Stadtzeitu­ng „Falter“, Autor von Essays, Romanen und Kochbücher­n, Musik-, Diskurs- und überhaupt Liebhaber
Armin Thurnher, Gründer und Herausgebe­r der Wiener Stadtzeitu­ng „Falter“, Autor von Essays, Romanen und Kochbücher­n, Musik-, Diskurs- und überhaupt Liebhaber
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 ??  ?? Michael Fleischhac­ker, nach Stationen bei der Kleinen Zeitung und beim „Standard“2004 bis 2012 Chefredakt­eur
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Michael Fleischhac­ker, nach Stationen bei der Kleinen Zeitung und beim „Standard“2004 bis 2012 Chefredakt­eur der „Presse“, heute freies Radikal

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