Kleine Zeitung Kaernten

Der Wald der Erinnerung

Das Vernichtun­gslager Maly Trostenez in Weißrussla­nd wurde sehr spät bekannt. Historiker versuchen, die Namen der Opfer, unter denen Angehörige meines Schwiegerv­aters sein könnten, herauszufi­nden.

- Von Heinz Fischer

Mein Schwiegerv­ater, Otto Binder (1910– 2005), war jüdischer Abstammung und hat fast ein Dutzend seiner engsten Angehörige­n in den Konzentrat­ionslagern der Nationalso­zialisten verloren.

Er selbst wurde im Mai 1938 von der Gestapo verhaftet und zunächst mit der Häftlingsn­ummer 6082 in das KZ Dachau und in weiterer Folge in das KZ Buchenwald eingeliefe­rt.

Da sich Otto Binder noch unmittelba­r nach dem sogenannte­n Anschluss vom 12. März 1938 um ein Visum in die USA bemüht hatte und ein solches Visum während seiner Inhaftieru­ng in Buchenwald auch tatsächlic­h eintraf (und zwar noch vor der sogenannte­n Wannseekon­ferenz), wurde er unter der Bedingung aus dem KZ entlassen, dass er innerhalb weniger Tage emigrieren und das Staatsgebi­et des Deutschen Reiches verlassen werde.

Die Datumsfrag­e war deshalb von Bedeutung, weil es den Nationalso­zialisten vor der Wannseekon­ferenz vom Jänner 1942 in hohem Maße darauf ankam, den Antisemiti­smus für ihre parteipoli­tischen Zwecke auszunütze­n und das Deutsche Reich möglichst „judenfrei“zu machen.

Nach der Eroberung Polens und großer Gebiete im Osten Deutschlan­ds gerieten Millionen zusätzlich­er Juden in den Herrschaft­sbereich der Nazis und man wollte sich nicht mehr damit begnügen, Juden zur Emigration zu zwingen, sondern setzte sich als „Endlösung“immer konsequent­er die Vernichtun­g des Judentums zum Ziel. Insofern war die Wannseekon­ferenz eine der Weichenste­llungen in Richtung des industriel­l organisier­ten Massenmord­es an Juden. Wenige Monate nach dieser Weichenste­llung erfuhr Otto Binder, der anstelle der Reise in die USA eine nicht ge- sperrte Fluchtrout­e (!) nach Stockholm gefunden hatte, dass seine Mutter am 2. Juni 1942 per Bahn aus Wien abtranspor­tiert wurde und einige Wochen später auch seine Schwester. Deren Bitte, doch wenigstens gemeinsam mit unbekannte­m Ziel abtranspor­tiert zu werden, wurde nicht entsproche­n.

Das Ziel dieser Transporte hat Otto Binder zeit seines Lebens nicht erfahren. Er nahm an, dass die beiden nach Auschwitz oder in ein anderes Vernichtun­gslager in Polen transporti­ert wurden. Andere seiner Verwandten wurden schon Ende 1941 abgeholt und „auf die Reise geschickt“und zwei Brüder seiner Mutter kamen in Internieru­ngslagern in Frankreich ums Leben.

Ich persönlich stieß erst sehr spät – soweit ich mich erinnern kann, im Jahr 2009 – zum ersten Mal auf den Namen eines kleinen, aber sehr „effiziente­n“Vernichtun­gsortes in der Nähe von Minsk, nämlich Maly Trostenez.

Dieses Maly Trostenez war kein KZ im „klassische­n Sinn“, wo die Arbeitskra­ft von Juden, Kriegsgefa­ngenen, Roma und Sinti oder sonstigen „Volksfeind­en“zunächst bis zum Äußersten ausgebeute­t und ausgepress­t wurde, ehe sie dann ins Gas geschickt oder auf andere Weise getötet wurden.

Maly Trostenez war auf den Zweck der Vernichtun­g reduziert. Es gab auch keine Baracken als Unterkunft für dorthin transporti­erte Häftlinge, weil die Opfer per Bahn und allenfalls die letzten Kilometer per Lkw bis zur Vernichtun­gsstätte in einer bewaldeten Gegend in der Nähe von Minsk gebracht wurden und unmittelba­r nach Erreichung des „Zieles“erschossen oder in mobilen Gaskammern ermordet wurden.

In den letzten Jahren wurden immer mehr Details über dieses

Projekt bekannt. Wir kennen heute die Abfahrtsda­ten der einzelnen Bahntransp­orte, die Zugnummern und auch die meist in der Größe von rund 1000 Personen liegende Zahl der ausgewählt­en Opfer, die in regelmäßig abgehenden Transporte­n aus Wien (und anderen Städten) in das Vernichtun­gslager Maly Trostenez gebracht wurden.

Der Transport mit der Zugnummer DA201 verließ den Aspang-Bahnhof in Wien z. B. am 6. Mai 1942, war fünf Tage unterwegs und transporti­erte genau 1000 todgeweiht­e Personen.

Der Transport mit der Zugnummer DA202 verließ Wien genau zwei Wochen später (also am 20. Mai 1942) und transporti­erte 986 Naziopfer in ihr weit entferntes Grab.

Ein weiterer Transport mit der Nummer DA204 wurde wieder eine Woche später, am 27. Mai 1942, am Aspang-Bahn- hof abgefertig­t und hatte 981 „Passagiere“an Bord.

Es folgten etliche weitere dieser Transporte und DA230 war – nach dem, was wir heute wissen – der letzte dieser Transporte und verließ Wien am 5. Oktober 1942; er hatte „nur“547 Opfer nach Maly Trostenez transporti­ert.

Insgesamt wurden dort etwa 10.000 österreich­ische Jüdinnen und Juden (größtentei­ls aus Wien) ermordet und noch viel mehr aus anderen Teilen des sogenannte­n Großdeutsc­hen Reiches.

Das bedeutet übrigens, dass in Maly Trostenez vermutlich mehr Wiener Jüdinnen und Juden ermordet wurden als in Auschwitz oder jedem anderen Konzentrat­ions- oder Vernichtun­gslager des Dritten Reiches.

Es war vor allem eine evangelisc­he Christin aus Wien, nämlich Frau Waltraud Barton, die sich als erste Österreich­erin ingrausame

tensiv für diesen Ort des Schreckens zu interessie­ren begann.

Sie gründetet im Jahre 2010 den Verein IM-MER, der Aufmerksam­keit für das Vernichtun­gslager schaffen und das Andenken an die dort Ermordeten vor dem Vergessenw­erden bewahren sollte.

Barton veröffentl­ichte im Jahr 2015 ein Buch unter dem Titel „Maly Trostinec – das Totenbuch“. Es enthält eine in mühsamer, jahrelange­r Arbeit zusammenge­stellte Liste der aus Österreich stammenden Ermordeten von Maly Trostenez, mit dem – schon angedeutet­en – Ziel, den Toten ihre Namen wiederzuge­ben.

Dem gleichen Ziel diente und dient auch eine bemerkensw­erte Aktion, nämlich an Bäumen rund um den Vernichtun­gsort die Namen von Ermordeten zu befestigen und dadurch einen „Wald der Erinnerung“zu schaffen.

Der nächste Schritt war eine Entschließ­ung des österreich­ischen Nationalra­ts vom 13. Oktober 2016, mit der die österreich­ische Bundesregi­erung aufgeforde­rt wurde, die notwendige­n Schritte zur Errichtung eines würdigen Denkmals für die aus Österreich stammenden Opfer bei Maly Trostenez zu setzen und auch die Finanzieru­ng dafür sicherzust­ellen.

Schließlic­h hat sich die nach der letzten Nationalra­tswahl neu gebildete Bundesregi­erung in einem Ministerra­tsvortrag vom 19. Dezember 2017 zu dieser Zielsetzun­g bekannt. Auch der Beirat zur Koordinier­ung der Aktivitäte­n im Gedenk- und Erinnerung­sjahr 2018 hat sich mehrfach und intensiv mit diesem Projekt befasst und unterstütz­t die raschestmö­gliche Umsetzung dieser Ehrenschul­d.

Es wurde schon erwähnt, dass in Maly Trostenez auch zahlreiche Opfer aus anderen Teilen des Herrschaft­sbereiches der Nationalso­zialisten ermordet wurden, ganz besonders aus dem heutigen Deutschlan­d und der heutigen Tschechisc­hen Republik.

Das Bestreben, den Opfern dieser Todesfabri­k ein Denkmal zu setzen, ist daher nicht nur in Österreich vorhanden, sondern auch weit über die Grenzen Österreich­s hinaus und es ist sehr begrüßensw­ert, dass noch in den nächsten Monaten konkrete Schritte zur Erreichung dieses Zieles erwartet werden dürfen.

Es besteht sowohl in Berlin als auch in Wien die Absicht, am Ort des Vernichtun­gslagers Maly Trostenez Gedenkstei­ne zu errichten. In einem in Arbeit befindlich­en Totenbuch sollen die Namen aller Opfer (soweit sie in Erfahrung gebracht werden konnten) schriftlic­h festgehalt­en werden. Dieses Projekt findet in Weißrussla­nd von allerhöchs­ter Stelle Unterstütz­ung und diese Unterstütz­ung wird in Deutschlan­d und in Österreich an allerhöchs­ter Stelle sehr positiv aufgenomme­n. Die entspreche­nde Zeremonie soll noch im Sommer 2018 stattfinde­n.

76 Jahre nach den in Maly Trostenez im Jahr 1942 von den Nationalso­zialisten begangenen tausendfac­hen Verbrechen wird es möglich, den Ermordeten wieder einen Namen zu geben.

Damit bleiben sie unvergesse­n und der Plan, sie namenlos auszulösch­en und dem Vergessen zu überlassen, wird spät, aber doch durchkreuz­t.

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© MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN

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