Spanisches Parlament wählt konservativen Ministerpräsidenten Rajoy ab. Nachfolger steht aber ebenfalls auf wackligen Beinen.
Die Abwahl eines Ministerpräsidenten ist ein Novum in Madrid. Doch Rajoys Nachfolger steht auf wackligen Beinen.
Jubel auf der einen Seite, versteinerte Mienen auf der anderen. Dann erhob sich der abgesetzte Regierungschef Spaniens, der Konservative Mariano Rajoy, von seinem Abgeordnetensessel und gratulierte seinem Nachfolger, dem Sozialisten Pedro Sánchez. Bis zuletzt hatte sich Rajoy geweigert, freiwillig zurückzutreten. 180 JaStimmen erhielt der Misstrauensantrag, den Sánchez gestellt hatte. Genug, um Rajoy aus dem Amt zu katapultieren. Die notwendige absolute Mehrheit lag bei 176 Stimmen. Damit war der 63-Jährige, der seit 2016 mit einem Minderheitskabinett regierte, gestürzt. Sein Widersacher, der 46-jährige Oppositionschef, wurde automatisch neuer Ministerpräsident Spaniens. Die Sozialisten, die linksalternative Protestbewegung Podemos und die nationalistischen und separatistischen Parteien aus dem Baskenland und aus Katalonien stimmten für den Machtwechsel. Die 169 Nein-Stimmen der konservativen Volkspartei und der Liberalen konnten Rajoy nicht retten. Es war das erste Mal in der demokratischen Geschichte Spaniens, dass ein Regierungschef durch einen Misstrauensantrag gestürzt wurde.
Schon lange stand Rajoy unter wachsendem Druck, weil die Korruptionsermittler immer neue Einzelheiten über Schmiergeldgeschäfte in Rajoys Partei ans Tageslicht brachten. Skandale, die Rajoy als „isolierte Einzelfälle“darstellte. Er habe nichts davon gewusst, behauptete er. Doch spätestens seit der Nationale Gerichtshof 29 konservative Politiker und parteinahe Unternehmer wegen Bestechlichkeit in Haft schickte, wurde klar, dass es nicht um Einzelfälle, sondern um eine systematische Praxis ging. Den Richtern zufolge wurden in vielen Rathäusern und Regierungsstellen, in denen Rajoys Parteifreunde das Sagen hatten, jahrelang öffentliche Aufträge gegen Schmiergelder vergeben. Die Spuren führten bis in die Parteizentrale, in der Rajoy seit 2004 den Kurs bestimmt.
„Heute schreiben wir eine neue Seite in der Geschichte der Demokratie dieses Landes“, sagte Sánchez nach seinem Sieg. Er versprach, die Regierungsverantwortung „mit Bescheidenheit“zu übernehmen und den Konsens mit möglichst vielen Parteien zu suchen. Rajoy hatte sich schon Minuten vor seiner Niederlage vom Rednerpult aus verabschiedet: „Es war eine Ehre, Spaniens Ministerpräsident zu sein“, sagte er. Schon 2011 war der Jurist, der sich vom Grundbuchbeamten in der Provinz zum Regierungschef hochdiente, an die Macht gekommen. Zunächst mit einer absoluten Mehrheit. Dann von 2016 an, nachdem sein Stern durch immer neue Korruptionsskandale gesunken war, mit einer Minderheitsregierung.
„Viel Glück“, wünschte Rajoy seinem Nachfolger, der in den kommenden Tagen verkünden wird, wie sein Kabinett aussehen soll. Glück wird der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Sánchez auch brauchen, denn seine Regierung stützt sich keineswegs auf eine stabile Mehrheit. Die Sozialisten, die in der vorhergehenden Wahl knapp 23 Prozent holten, halten im Parlament nur 85 der 350 Sitze. Das ist noch weniger Rückhalt, als Rajoy aufweisen konnte, der immerhin noch 137 Mandate hinter sich scharrte. Sánchez wird sich also vor jeder Entscheidung neue Mehrheiten suchen müssen. Und das dürfte bei einigen stachligen Themen wie den Haushaltsverhandlungen schwierig werden. Schon Rajoy hatte sich an den Etat-Gesprächen die Zähne ausgebissen und konnte seine Haushalte nur mit Mühe verabschieden.
Angesichts der schwierigen Mehrheitsverhältnisse sind baldige Neuwahlen also nicht ausgeschlossen. In den Umfragen liegt allerdings nicht die Sozialistische Arbeiterpartei, sondern die liberale Partei Ciuda-
danos (Bürger) im Aufwind, während die Sozialisten eher Einbußen zu erwarten haben. Diese Ausgangslage war übrigens der Grund, warum es Sánchez vorzog, per Misstrauensantrag an die Macht zu kommen, und die Forderung nach sofortiger Neuwahl ablehnte.
Aber vor allem beim größten innenpolitischen Problem, dem Unabhängigkeitskonflikt in der Region Katalonien, dürfte es für Sánchez schwierig werden. Die Separatismusparteien ließen bereits durchblicken, dass ihre Unterstützung für den Misstrauensantrag nicht ohne Gegenleistung gewährt wurde.
Sánchez verspricht zwar einen neuen Gesprächsstil mit den katalanischen Separatisten, die sich bisher von Rajoy ignoriert fühlten. Er will auf „Dialog“setzen und „neue Brücken mit Katalonien bauen“. Aber die Einheit Spaniens steht auch für ihn nicht zur Debatte. Es drohen also neue Konflikte: Sollten ihm die Katalanen die Unterstützung wieder entziehen, könnte die Amtszeit von Sánchez schnell zu Ende gehen.
Der Machtwechsel bereitete übrigens auf dem Madrider Wachsmuseum Überstunden. Die Mitarbeiter arbeiten „auf Hochtouren“, um die Wachsfigur des neuen Premiers fertigzustellen, berichtet die Zeitung „El Mundo“. Denn sein Vorgänger muss nicht nur den Regierungspalast verlassen. Am Wochenende sei der Wachs-Rajoy noch im „Museo de Cera“zu besichtigen, hieß es. Am Montag werde er aus dem Ausstellungsraum entfernt.