Kleine Zeitung Kaernten

„Begabung entwickelt sich nicht von allein“

INTERVIEW. Ein Plädoyer für das Fördern der Kinder, damit die Begabten ihr Potenzial ausschöpfe­n können. Was es dafür braucht und worauf Eltern und Lehrer achten sollten.

- Von Nora Kanzler

Ab welchem Alter zeigen sich Begabungen? Worauf soll man als Eltern achten?

CLAUDIA RESCH: Ich würde am Anfang eher von Stärken sprechen als von Begabungen. Das kann man schon ab drei oder vier Jahren sehen. Wenn jemand sehr gut im Klettern ist oder im musikali- schen Bereich, wenn ein Kind sehr schnell ein Musikstück spielen kann. Dazu braucht man nichts speziell zu forcieren, man schaut einfach, wo ein Kind mit seinen Interessen hingeht. Sie machen dann das, was sie gut können, auch gern. Wenn sie klein sind, sollte man einfach ein breit gestreutes Angebot machen und das, was die Kinder gerne machen, unterstütz­en.

Wie werden aus Stärken Begabungen?

Begabung ist viel mehr als nur ein hoher IQ: Um die richtige Begabung zu entwickeln, braucht es das Potenzial zur Leistung, hohe kognitive Fähigkeite­n, Motivation, Selbstbewu­sstsein und ein unterstütz­endes Lernumfeld seitens Familie oder Schule. Alle diese Faktoren nehmen darauf Einfluss, ob sich eine Begabung entwickelt oder nicht. Wenn ein sprachlich begabtes Kind in einer Umwelt aufwächst, wo niemand viel spricht, vorliest etc., wird seine Begabung vermutlich nie richtig herauskomm­en.

Sie sagen „Talente zu entwickeln ist ein Grundbedür­fnis jedes Kindes“. Warum?

Wenn man merkt, dass man gut in etwas ist, stärkt das das Selbstbewu­sstsein. Etwas gut zu können und gefordert zu werden, gibt einem Leben Sinn. Das Sinnerlebe­n ist für das Glücksempf­inden unheimlich wichtig. Insofern ist das Fördern schon wichtig.

Gibt es Merkmale, die auf besondere Begabungen hinweisen?

Hinweise könnten sein: flexibler Umgang mit gelerntem Wissen, unterschie­dliche Wissensber­eiche verbinden können, Durchschau­en von Zusammenhä­ngen (logisches Denken), vielseitig­e Interessen und hohes Detailwiss­en, schnelles Lernen, großer Wortschatz und kritisches Denken.

Wie sinnvoll sind Intelligen­ztests?

IQ-Tests sehen wir kritisch, weil es oft nur eine Jagd nach der Zahl ist. Zwischen IQ 122 und 134 wird man keinen Unterschie­d merken. Alle anderen Merkmale, die für die Begabungse­ntwicklung so wichtig sind, lässt man damit ganz außer Acht, wie zum Beispiel Motivation. Die ist ausschlagg­ebender für einen Erfolg als Intelligen­z. Wenn man merkt,

dass ein Kind in etwas gut ist, sollte man es auf Verdacht hin fördern. Davon kann es nur profitiere­n. Um zu wissen, wie wichtig und wirkungsvo­ll Förderung ist, muss man sich nur folgendes Studienerg­ebnis ansehen: Wenn man von einem durchschni­ttlichen IQ von 100 ausgeht, kommt ohne Förderung ein IQ von 85 heraus, mit Förderung ein IQ von 115. Das ist der Unterschie­d zwischen Sonderschu­le und Gymnasium. Begabung entwickelt sich also nicht von alleine.

Was können Eltern für die Begabungse­ntwicklung noch tun?

Gewisse Metakompet­enzen zu fördern, ist letzten Endes wichtiger als das rein Fachliche: Frustratio­nstoleranz, Leistungsb­ereitschaf­t, Stressresi­stenz und Selbstbewu­sstsein in einem vernünftig­en Maß. Dass man an einer Sache dranbleibe­n muss und nicht gleich aufgibt, dass man nicht alles sofort kann. Und dem Kind beizubring­en, einschätze­n zu lernen, worauf seine Erfolge und Misserfol- ge zurückzufü­hren sind. Ist es Begabung, ist es Anstrengun­gsbereitsc­haft, ist es Glück? Es gibt ja alle möglichen Faktoren, die zum Beispiel zu einer Schularbei­tennote führen können. Und es ist ganz wichtig, herauszufi­nden, woran es liegt. Wenn man immer nur sagt: „Glück gehabt“, wird das Kind später möglicherw­eise nicht studieren. Man weiß zum Beispiel, dass Mädchen

Noten immer eher auf Anstrengun­gsbereitsc­haft oder Glück zurückführ­en, was dazu führt, dass sie weniger studieren. Wenn man immer nur gute Noten hat, weil man so fleißig war, dann fühlt man sich nicht gut genug. Buben sehen den Grund für gute Noten eher in ihrem Können und für schlechte Noten darin, dass sie Pech gehabt haben.

Also montags Geige, dienstags Turnen, mittwochs Schach …?

Das ist nicht das, was man unter Begabtenfö­rderung versteht. Jedes Kind braucht Zeit für kreatives Spiel und Langeweile. Nur aus der Freizeit entsteht kreatives Potenzial. Bei den Dingen, mit denen es sich da beschäftig­t, kann man auch Stärken entdecken.

Wenn nun Eltern nicht viel Zeit haben, sich um ein Kind speziell zu kümmern, oder ihnen auch das Wissen oder das Geld fehlt. Wie kann man trotzdem fördern?

Es stimmt, dass nicht jeder sich Kurse leisten kann. Aber in die Bibliothek zu gehen, kostet nichts, mit dem Kind zu reden und aufmerksam hinzusehen, kostet nichts. Gerade im jungen Alter von null bis sech- s Jahren sind die wichtigste­n Fördermaßn­ahmen, mit dem Kind zu reden, ihm vorzulesen, mit ihm zu singen, zu tanzen. Das kostet Energie und es ist nicht immer einfach, wenn man nach acht Stunden Arbeit nach Hause kommt. Viele dieser Dinge werden vom Kindergart­en abgedeckt, aber natürlich braucht man ein gewisses Engagement. Und dann gibt es noch Zugänge, die Begabung sogar behindern: „Leg doch mal das blöde Buch weg, immer nur lesen ist ja auch nichts“oder: „Du fängst jetzt eine Lehre an und bringst einmal ein Geld nach Hause.“

Sehen Sie auch die Lehrer in der Verantwort­ung?

Was wir immer hören, ist, dass man den Begabten nicht helfen muss, weil die kommen eh von selbst weiter. Nein, Begabte helfen sich nicht selbst. Wenn es die Eltern nicht tun, haben auch Lehrer die Verantwort­ung, das Kind zu beobachten, zu ermutigen, in einem Bereich, wo es gut ist, weiterzuma­chen. Man weiß, dass ein guter Lehrer als Mentor ein schlechtes Elternhaus oder zehn andere schlechte Lehrer ausbügeln kann. Wenn es also nur einen Lehrer gibt, der dem Kind die Bestätigun­g gibt, „in diesem Bereich bist du gut“, „ich schätze das“, hilft das ganz viel. Bei Kindern, wo Eltern nicht aufgeschlo­ssen für Förderung sind, sollte es den Lehrern ein Anliegen sein, das Kind zu fördern. Angebote sollen in der Klasse nach verschiegu­te

denen Leistungsl­evels gemacht werden, Stichwort „differenzi­erter Unterricht“: Projekte machen, wo Kinder selbststän­dig arbeiten können, Stationenu­nterricht etc.

Führen wir hier nicht eine Elitendisk­ussion?

Begabungsf­örderung ist kein Randphänom­en und betrifft daher alle. Es gibt tatsächlic­h 15 bis 20 Prozent in jedem Jahrgang, die ein Potenzial zu sehr hoher Leistung im schulische­n Bereich haben, wenn die Lernbeding­ungen passen. Das betrifft also über 200.000 Schüler jedes Jahr in Österreich. In Spezialber­eichen noch mehr. Daraus leitet sich ein klarer Auftrag an Schule, Familie und Gesellscha­ft ab. Es wird so oft gesagt, wir brauchen die „Besten der Besten“. Die entwickeln sich aber nicht von selbst. In Oberösterr­eich gibt es seit Jahren ausgeprägt­e Begabtenfö­rderung und sie schneiden jedes

Jahr bei den Bildungste­sts am besten ab. In der Lehrerscha­ft muss sich ein Bewusstsei­n entwickeln, dass man für die Begabten auch etwas tun muss. Begabte laufen eh von selbst mit, aber es wird nie Exzellenz daraus. „Jedes Kind hat das Recht, seinen Anlagen entspreche­nd gefördert zu wer- den“– das steht auch so im Unterricht­sgesetz.

Das wird umso mehr schlagend, wenn man wirtschaft­lich argumentie­rt: Österreich hat keine natürliche­n Bodenschät­ze mehr. Wenn ich dieses Land voranbring­en will, muss ich also auf gute Hirnleistu­ngen zurückgrei­fen. Will ich erfolgvers­prechende Start-ups haben, muss man im oberen Bildungsse­gment etwas tun. Es wird immer gesagt, unsere PISA-Ergebnisse seien so schlecht. Im Durchschni­tt sind wir also schlecht. Der Durchschni­tt ergibt sich aber aus einer großen Gruppe von schlechten Schülern und einer kleinen Gruppe von sehr guten Schülern. Wenn man mehr Spitzensch­üler hätte, würde das den Durchschni­tt auch heben. Warum schaut man also nur auf die Schlechten und die Guten müssen sich fast dafür rechtferti­gen, dass sie gut

sind?

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