Unterwegs auf der neuen Balkanroute: Christian Wehrschütz auf der Suche nach Flüchtlingsströmen.
Absolut sind Zahlen der Migranten auf der Balkanstrecke klein, nicht aber die Prozentzahlen. Ein Lokalaugenschein.
Die Gemeinde Velika Kladuˇsa liegt im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina, keine fünf Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt. Am Ortsrand der Gemeinde an einem Flüsschen steht ein Lager mit kleinen Zelten, das am Samstag etwa 70 Personen beherbergte. Iraker, Syrer, Pakistani und Iraner sehen wir, viele junge Männer, aber auch Familien mit kleinen Kindern. Versorgt wird das Lager von lokalen Helfern aus Velika Kladuˇsa mit Nahrung, Kleidung oder Medikamenten.
Das Lager macht einen sehr provisorischen Eindruck. Ziel der Bewohner ist der illegale Übertritt über die Grenze nach Kroatien. Velika Kladuˇsa ist nur etwas mehr als 100 Kilometer von Zagreb entfernt, die Hälfte davon ist Autobahn. Somit ist der Ort aus der Sicht von Migranten und Schleppern eine gute Absprungbasis für den weiteren Weg an die slowenische Grenze. Dazu genützt wird die grüne Grenze, aber auch die zwei Grenzübergänge in der Nähe des Lagers.
Am nächsten liegt der Übergang Maljevac. Hier entdeckte die Grenzpolizei erst gestern drei Syrer, die sich am Unterboden eines Busses festgeklammert hatten. Die Männer seien schwarz wie Bergleute gewesen, beschreibt ein Augenzeuge die Szene.
Die Mehrheit der Übertritte wird aber über die grüne Grenze versucht; genützt
werden dabei die kleinen Flüsse, aber auch GPS, das über das Mobiltelefon als Wegweiser dient.
Das Zeltlager in Velika Kladuˇsa und die absoluten Zahlen sind im Vergleich zum Höhepunkt der Migrationsbewegung auf der Hauptroute des Balkans im Jahr 2015 noch immer klein. Drastisch sind aber die prozentuellen Zuwächse, die auf dieser Nebenroute verzeichnet werden. So zählte Bosnien und Herzegowina im Jahr 2016 etwa 100 Rückweisungen von Migranten; nun wurde dieser Wert nach Angaben der Grenzpolizei bereits an einzelnen Tagen erreicht oder überschritten. Insgesamt zählte Bosnien in den ersten vier Monaten dieses Jahres 3300 Zu- rückweisungen an der Grenze und 1800 Aufgriffe von Migranten. Drastische Zuwächse verzeichnet auch Slowenien; das Innenministerium zählte im November noch zwischen 15 und 20 Aufgriffe pro Tag, nunmehr sind es 35 bis 50 pro Tag, wobei vor allem Migranten aus Nordafrika stark zunehmen. Deutlich gestiegen sind auch die Asylanträge, obwohl Slowenien noch immer für die meisten Migranten nur ein Transitland ist. Slowenien ist die erste Schengen-Außengrenze der EU auf dem Balkan; die Grenze zu Kroatien ist 670 Kilometer lang und an sich leicht passierbar, denn auch der teilweise vorhandene Stacheldraht bildet kein unüberwindbares Hindernis.
Besorgt sei Slowenien über das Missverhältnis zwischen Aufgriffen an der EU-Außenund der Schengen-Grenze, betont der Staatssekretär im Innenministerium Boˇstjan Sˇefic: „Wenn an der Außengrenze der EU etwa zwischen Bosnien und Kroatien oder Serbien und Kroatien 200 illegale Migranten aufgegriffen werden, so greifen wir an unserer Grenze 600 auf. Da haben wir ein Verhältnis von eins zu drei oder eins zu zwei. All diese Migranten kommen über die EU-Außengrenze, deren Überwachung verstärkt werden muss.“
Einen Grund für den starken Anstieg der Migrationsströme sieht Sˇefic in der Zunahme der Übertritte von der Türkei nach Griechenland, einen zweiten in der Aufhebung der Visapflicht für Iraner in Bosnien.