Die Zeit der süßen Verführung
Es klingt fast ein bisschen altmodisch, das Wort Saison. Klingt nach Dingen, die es nicht gibt – und das in einer globalisierten Welt! Unmöglich. Doch man kann Saison auch anders verstehen, wenn nämlich aus der Ware wahrer Genuss wird. Nirgendwo schmeckt man das besser als bei der Erdbeere. Wenn ihr Flugmeilenkonto jenem von Spitzenmanagern gleicht, ist der Geschmack wie ein Jetlag: Es fehlt die Substanz. Denn die Erdbeere, sie lässt sich nicht hetzen, sie muss reifen. Wie gerade jetzt, wenn die Erdbeersaison zur Hochform aufläuft. Das weiß niemand besser als Menschen, die täglich im Garten Nachschau halten. Man kann das auch als botanische Erziehungsmaßnahme in Sachen Geduld verstehen: Zunächst ist sie grün, dann wird sie weiß, danach wird sie rötlich, dann noch ein bisschen rötlicher, am Ende ist sie knallrot. Darin ist die Erdbeere besonders gut, sie lässt uns zappeln. Und natürlich mag die Frucht schön sein, außerordentlich schön sogar, aber noch schöner ist die Tatsache, dass ihre äußere Erscheinung so gar nichts über ihre inneren Werte preisgibt. Es kann die scheinbar perfekteste Erdbeere sehr langweilig schmecken.
Erstaunlich ist, dass wir nichts daraus lernen. Ganz im Gegenteil, der Mensch mutiert zum Pawlow’schen Hund. Wird er einer roten Erdbeere ansichtig, dann ist es kulinarische Liebe. Auf den ersten Blick. Immer und immer wieder. Da kann das letzte Stück noch so wässrig oder faulig gewesen sein. Alles vergessen. Es ist der ewige Versuch und Irrtum. Das muss uns Erdbeertigern aber nicht peinlich sein, denn der Erdbeere sind schon ganz andere verfallen. Schon Shakespeare ließ Richard III. nach Erdbeeren gieren, die Beatles haben mit „Strawberry Fields Forever“einen Welthit gelandet und Joseph Roth hat ihnen eine ganze Erzählung gewidmet.
Naschkatzen wissen um die Qualitäten der süßen Früchte und wie sie am besten schmecken: indem man seine Ernte mit anderen teilt. Außer vielleicht mit Bären, aber mit denen ist ohnehin nicht gut Kirschen essen.