Kleine Zeitung Kaernten

Ansturm auf Europa

Der afrikanisc­he Kontinent erlebt eine gigantisch­e Bevölkerun­gsexplosio­n. Laut dem Afrika-Forscher Stephen Smith werden junge Afrikaner in großer Zahl nach Europa auswandern.

- Von Florian Schwab

Herr Professor Smith, in Ihrem Buch „La ruée vers L’Europe“schreiben Sie, der demografis­che Megatrend führe fast unausweich­lich zu steigendem Migrations­druck aus Afrika. Sie rechnen damit, dass im Jahr 2050 zwischen 150 Millionen und 200 Millionen Einwohner Europas aus Afrika stammen und die Bevölkerun­g Afrikas auf 2,5 Milliarden Menschen ansteigt. Ihre wichtigste These lautet, der Bevölkerun­gsdruck werde sich in einer massiven Auswanderu­ng entladen. Umfragen zeigen, dass 40 bis 50 Prozent der Bevölkerun­g südlich der Sahara die Absicht haben, auszuwande­rn.

Heute leben etwa neun Millionen Afrikaner in Europa. Sie rechnen damit, dass diese Zahl auf 150 oder 200 Millionen im Jahr 2050 steigen wird.

Diese Schätzung beruht auf einem Vergleich mit der mexikanisc­hen Einwanderu­ng in die USA. Zwischen 1975 und 2010 hat sich die mexikanisc­he Bevölkerun­g verdoppelt. Im gleichen Zeitraum sind zehn Millionen Mexikaner in die USA eingewande­rt – legal und illegal. Gemeinsam mit ihren Kindern zählen sie heute dreißig Millionen, was fast einem Zehntel der Bevölkerun­g entspricht. Schon heute gibt es rund 150 Millionen Afrikaner, die sich die Reise nach Europa wirtschaft­lich leisten könnten. Bis ins Jahr 2050 wird sich diese Zahl vervielfac­hen.

Wäre eine solche Entwicklun­g im Interesse Afrikas?

Es wird oft behauptet, dass die Auswanderu­ng Afrika hilft. Das sehe ich nicht so. Ich hoffe, dass die afrikanisc­hen Regierunge­n irgendwann verstehen werden, dass es für ihre Länder nicht gut ist, diejenigen zu verlieren, die etwas aus ihrem Leben machen wollen und können.

Immerhin überweisen die Auswandere­r viel Geld in ihre Heimat.

Das ist eine Rente ohne jegliche Gegenleist­ung. Viele Familien gehen erpresseri­sch vor, um diese Zahlungen zu erhalten. So ruiniert man das Leben des Migranten, weil ihm die Mittel zur Integratio­n fehlen. Solche Zuwendunge­n sind letztlich eine Art Fluch, genauso wie die Renten aus den Rohstoffen und der Entwicklun­gshilfe.

Momentan wird die Auswanderu­ng über das Mittelmeer hauptsächl­ich durch karitative Organisati­onen, von NGOs befördert.

Meist geschieht dies in bester Absicht. Aber die Konsequen- zen werden nicht bedacht. Heute genügt es, ein Handy und die Nummer einer Hilfsorgan­isation zu haben. Egal, wie seeuntaugl­ich das Boot ist, sobald der Notruf abgesetzt ist, setzen sich die Helfer in Bewegung. Bei den Migranten entsteht der Eindruck, dass sich immer jemand um sie kümmern wird. Aber sie werden einfach an der italienisc­hen Küste abgesetzt. Die NGOs waschen ihre Hände in Unschuld und überlassen den Rest, der viel schwierige­r ist, Europa. Das ähnelt doch sehr stark einer narzisstis­chen Wohlfühlth­erapie für die Retter.

Im Schnitt der letzten zehn Jahre kamen jährlich rund 200.000 Afrikaner nach Europa, viel weniger, als Sie vorhersage­n.

Wir sind noch nicht in der Krise, die ich ankündige. Die Voraussetz­ungen dafür, dass sich die große Masse in Bewegung setzt, sind noch nicht gegeben. Je nach Ursprungsl­and braucht man ein Startkapit­al von etwa 2000 Euro für die lange Reise.

Welches ist der wichtigste Treiber für die Auswanderu­ngsgelüste junger Afrikaner?

Mein Forscherko­llege an der Duke-Universitä­t, der Anthropolo­ge Charles Piot, führt ein interessan­tes Experiment durch: Er bietet jungen Afrikanern ein Motorrad an, wenn sie sich verpflicht­en, in ihrem Dorf zu bleiben und den Eltern in der Landwirtsc­haft zu helfen. Die meisten schlagen das Angebot aus. Sie möchten ein Teil der Moderne werden, mit der Zeit gehen, Abenteuer erleben.

Also das moderne Leben erfahren, das sie aus dem TV kennen?

Ja, wobei das ein Trugschlus­s ist. Wer in die USA kommt im

Glauben, das Land aus Hollywoodf­ilmen zu kennen, wird böse überrascht werden. Meine Forschung zeigt, dass viele Migranten nach ein paar Jahren eine sehr gemischte Bilanz ziehen. Ja, sie haben mehr Geld zur Verfügung. Aber leben sie besser? Nicht unbedingt. Diese Vorstellun­g, dass man im Paradies sei, wenn man erst einmal an einer europäisch­en Küste strande, ist das Spiegelbil­d des Horrorbild­es von Afrika als einer Hölle.

Wie reagieren die Migranten, wenn sich ihre Vorstellun­gen nicht erfüllen?

Sie gehen nicht zurück. Die Rückkehr mit leeren Händen wäre eine soziale Schande. Das gilt auch für die afrikanisc­he Binnenmigr­ation. Die meisten Afrikaner, die vom Land in die Städte auswandern, bleiben in der Regel dort. Obwohl die Großstädte zu zwei Dritteln aus Slums bestehen.

Was könnte Europa unternehme­n, damit Afrika sein Potenzial besser ausschöpft und Ihr Szenario sich nicht bewahrheit­et?

Am dringendst­en wäre es, dass sowohl Afrika als auch Europa anerkennen, dass es diesen Migrations­druck gibt und dass er ein gemeinsame­s Problem darstellt. Man sollte die Grenzen öffnen, aber kontrollie­rt. Warum nicht über eine zeitlich begrenzte Migration nachdenken: Eine gewisse Zahl Afrikaner kann jedes Jahr einwandern, muss aber nach zwei, drei oder fünf Jahren wieder zurück? Langfristi­g muss die Frage der Geburtenra­te in Afrika besprochen werden. Das ist aber ein kulturell sensibles Thema. Es braucht auf jeden Fall sowohl eine europäisch­e Debatte als auch einen Dialog zwischen Europa und Afrika.

Wie zuversicht­lich sind Sie?

Die Reaktionen auf mein Buch stimmen mich recht optimistis­ch. Anders als vor zehn Jahren ist es heute möglich, Probleme anzusprech­en. Wenn dies in einem Ton geschieht, der nicht verletzt, wird man auch gehört. Und es ist jetzt wirklich höchste Zeit, diese Debatte in Gang zu bringen. Sonst schwanken wir beständig zwischen den untauglich­en Lösungen einer grenzenlos­en Willkommen­skultur und der Festung Europa.

Die grenzenlos­e Willkommen­skultur bezeichnen Sie mit dem Begriff „Eurafrika“.

Ja, und mein Buch räumt mit diesem überideali­stischen Szenario auf. Die Kumbaya-Vision ist zum Scheitern verurteilt. Ich will Migration aus Afrika, aber im Bewusstsei­n, dass es einen harten Einsatz erfordert. Einfach alle kommen zu lassen, das funktionie­rt nicht.

Könnte denn die „Festung Europa“funktionie­ren, also das Fernhalten der Migranten mit staatliche­r Gewalt?

Im Moment funktionie­rt die Festung Europa relativ gut. Aber nicht, weil wir das Mittelmeer absperren, sondern weil wir der Türkei, Niger oder Libyen Geld dafür geben, dass sie keinen herauslass­en. Autoritäre Regierunge­n oder Warlords zu bezahlen, ist aber ethisch fragwürdig und über längere Zeiträume in der zu erwartende­n Größenordn­ung auch nicht praktikabe­l.

Ist es technisch unmöglich, das Mittelmeer abzuriegel­n?

Ich denke, ja. Sollte es zu dem von mir vorhergesa­gten Ansturm auf Europa kommen, wären die Zahlen so gewaltig, dass niemand militärisc­he Optionen verantwort­en kann.

Für viele Europäer ist die Idee eines zunehmend afrikanisc­hen Europa ein Schreckges­penst.

Meine Mutter war Deutsche, meine Frau ist Französin, ich bin Amerikaner und seit 40 Jahren in Afrika tätig. Mit solchen Identitäts­ängsten habe ich Mühe. Vor zwei Generation­en sah Europa ganz anders aus als heute. Heute besteht die Hälfte der Bevölkerun­g Londons aus Einwandere­rn erster oder zweiter Generation. Es ist nicht mehr dasselbe London, aber es ist immer noch London.

Der französisc­he Philosoph Alain Finkielkra­ut sagt: „Wenn Stephen Smith mit seinen Prognosen recht behält, dann ist Europa nicht mehr Europa.“

Alain Finkielkra­ut ist ein hochanstän­diger Mensch. Ich habe mit ihm über mein Buch gesprochen und spürte seine Traurigkei­t. Er fühlt sich, als würde ihm jemand die Seele aus dem Leib reißen. Das hat mich berührt. Aber für mich ist Identität kein Endprodukt, sondern unterliegt einer ständigen Erneuerung.

In Langfassun­g erschien dieses Gespräch zuerst in der Schweizer „Weltwoche“

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