Kleine Zeitung Kaernten

Warum es an den Schulen einer Revolution des Lernens bedarf

Der Schule fehlt eine wirkliche Einbindung in unsere Gesellscha­ft. Ein Plädoyer für eine ökologisch­e Schule als lebenden und sich selbst steuernden Organismus und gegen die Angst, Tabus anzugreife­n.

- „Die größte Gefahr für die meisten von uns ist nicht, dass wir hohe Ziele anstreben und sie verfehlen, sondern dass wir uns zu niedrige setzen und sie erreichen.“ Michelange­lo

Wer über mehr Bildung verfügt, wird seltener gekündigt, verdient mehr und zahlt daher höhere Steuern, ist in geringer Gefahr, kriminell zu werden, wird seltener krank und lebt deutlich länger. Diesen Bildungsre­ichtum vererbt er mit hoher Wahrschein­lichkeit an seine Kinder. So einfach ist das. Wenn Österreich daher keine grundlegen­de Bildungsre­form schafft, dann werden die Sozial- und Gesundheit­skosten weiter explodiere­n, weil man jeden fünften jungen Menschen in neun Jahren im Schulsyste­m völlig vernachläs­sigt, um ihn danach sechzig Jahre lang erhalten zu müssen. Wir werden uns alle beim Thema Schule in zehn, zwanzig Jahren fragen lassen müssen, ob wir alles getan haben, was wir konnten, damit Österreich auch weiterhin zu den reichsten und sichersten Ländern der Welt gehört.

Die Welt teilt sich in Zukunft nicht in Starke und Schwache oder Schnelle und Langsame. Die Welt teilt sich in die Lerner und die Nicht-Lerner. verharrt schon viel zu lange zögernd vor der Weggabelun­g zwischen den lernenden und den nichtlerne­nden Nationen.

Verlassen wir daher für einige Augenblick­e die kleine Welt von Österreich mit seinen 8,8 Millionen Einwohnern und 1,2 Millionen Schülern und werfen einen Blick auf die große Welt mit acht Milliarden Bewohnern und über zwei Milliarden Kindern. Laut Unesco werden in den nächsten 30 Jahren mehr Menschen eine Schulausbi­ldung abschließe­n als in der gesamten Geschichte der Menschheit. Diese gewaltige Herausford­erung lässt sich mit traditione­llem Klassenzim­merunterri­cht nicht bewältigen, weil es nie genug Lehrer und Geld dafür geben wird. Der notwendige Entwicklun­gssprung wird sicher nicht von den Bildungsmi­nisterien ausgehen, weil diese in ihren eigenen Denkmuster­n gefangen sind. Wie schon der langjährig­e CEO von Google, Eric Schmidt, treffend gesagt hat: „Innovation kommt nie aus etablierte­n Organisati­onen. Es bedarf immer eines scheinbar verrückten Schülers oder Studenten, jedenfalls eines Außenseite­rs.“

Längst hat sich eine Allianz der klügsten Köpfe und der reichsten Philanthro­pen gebildet, die erkannt hat, dass die Bewältigun­g der Bildungsfr­age die Voraussetz­ung für die Lösung aller großen globalen Herausford­erungen wie Hunger, Armut, Krankheite­n, Unterdrück­ung, Meinungsfr­eiheit und Umweltschu­tz ist. Es bedarf dazu einer Revolution des und vor allem Lösungen, die für Abermillio­nen

D Menschen skalierbar sind. azu drei Beispiele: Im Mai 2012 haben die Präsidenti­nnen der Harvard University und des MIT (Massachuse­tts Institute of Technology), Drew Faust und Susan Hockfield, bekannt gegeben, dass sie über die gemeinsame Plattform edX (www.edx.org) ihr gesamtes Wissen der ganzen Welt überall kostenlos zur Verfügung stellen werden. Alle Vorträge, Seminare und Lehrinhalt­e werden über diese eigens gestaltete Onlineplat­tform angeboten. Interessie­rte Studenten können damit auch kostenlose Harvard- und MIT-Abschlüsse machen, so sie die entspreche­nden Prüfungen online ablegen. Alle Universitä­ten werden eingeladen, sich dieser Plattform anzuschlie­Österreich ßen. Jeder Mensch, der über einen Computer mit Internetzu­gang verfügt, wird kostenlos die Vorlesunge­n der besten Wissenscha­ftler der Welt „besuchen“, diesen Fragen stellen und mit anderen Studenten darüber diskutiere­n können.

Wer glaubt, dass das alles nur ein Programm für eine intellektu­elle Minderheit sein wird, sollte sich mit dem gewaltigen Erfolg der Website www.ted.com auseinande­rsetzen. TED (Technology, Entertainm­ent, Design) hat bisher mit seinen tausend Videovortr­ägen von Nobelpreis­trägern, Wissenscha­ftlern, Erfindern, Künstlern und Visionären wie Bill Gates oder Amazon-Gründer Jeff Bezos weit mehr als eine Milliarde Besucher angelockt. Mit mehr als elf Millionen Sehern führt Ken Robinson mit seinem legenLerne­ns

dären Vortrag „Warum Schulen unsere Kreativitä­t töten“.

Am revolution­ärsten denkt Salman Khan, der Tausende Video-Lektionen von jeweils zehn Minuten Länge auf seiner Website www.khanacadem­y.org gestaltet hat. Diese führen auf einfache Weise in Mathematik, Naturwisse­nschaften und Geschichte ein. Zehn Minuten deshalb, weil das aufgrund von Forschunge­n die maximale Aufmerksam­keitsspann­e für die meisten Schüler – und Erwachsene­n – ist. Schüler, die an einem bestimmten Punkt in Mathematik nicht weiterkomm­en und deutlich hinter ihre Klasse zurückfall­en, sind deshalb nicht einfach zu dumm, sondern brauchen mehr Zeit und Hilfe, diese Hürde zu nehmen. Die Khan Academy hat aufgrund ihrer gesammelte­n Daten herausgefu­nden, dass es gerade diese Schüler sind, die dann sogar den Rest der Klasse überholen können, sobald ihnen „der Knopf aufgegange­n ist“. Im alten Schulsyste­m werden diese Kinder aussortier­t und fallen durch. Das Beispiel zeigt das enorme

W humanistis­che Potenzial. arum ist der Begriff Revolution gerechtfer­tigt? Die Erfindung des Buchdrucks machte das geschriebe­ne Wort plötzlich nicht nur für eine kleine Minderheit, sondern für Millionen zugänglich. Innovative Plattforme­n wie edX, TED oder die Khan Academy ermögliche­n das erste Mal in der Geschichte allen Lernenden, sich die besten Lehrer der Welt als die ihren auszuwähle­n, kostenlos und wann immer sie wollen.

Stellen wir uns drei Fragen:

Glauben wir wirklich, dass in zwanzig Jahren noch immer ein Lehrer mit dem Rücken zu seinen Schülern vor einer Tafel stehen wird, um mit Kreide Formeln draufzusch­reiben, die er dann wieder löscht, sobald die Tafel voll ist? Glauben wir wirklich, dass es sich die Regierunge­n angesichts immer knapperer Budgets noch lange werden leisten können, mit aufgebläht­en Schulverwa­ltungen ein System zu erhalten, das für immer weniger Schüler immer mehr Lehrer benötigt und trotzdem die Kosten der Eltern für Nachhilfes­tunden explodiere­n lässt? Und glauben wir wirklich, dass im 21. Jahrhunder­t in Österreich eine Institutio­n, deren Hauptzweck das Lernen ist, überleben kann, deren 120.000 Mitglieder nicht alle zumindest über einen eigenen Computer verfügen, in Teams arbeiten und sich ständig weiterbild­en müssen?

Unser Schulsyste­m ist eine relativ junge Institutio­n, die in ihrer heutigen Form erst mit dem Beginn der Industrial­isierung geschaffen wurde. Daher fehlt der Schule von Anfang an die Einbindung in unsere Gesellscha­ft, die zum Beispiel in der Wirtschaft jahrhunder­telang durch die Bauern, Märkte, Handwerker, Kaufleute, Handelssch­iffe und Banken immer gegeben war. Die Wirtschaft war immer Teil unseres Lebens, so wie Sport, Technik oder Kultur. Genau diese Verflechtu­ng mit unserer täglichen Welt brauchen die Schulen in Zukunft, wenn sie nicht zu Museen einer längst vergangene­n Zeit verkommen wollen. Und dazu müssen wir Mauern niederreio­ft

ßen. Die Schule von morgen muss sich endlich als Teil unserer Gemeinscha­ft und die Gemeinscha­ft muss sich als wichtiger

D Ort des Lernens verstehen. er lebende Organismus, das sich selbst steuernde ökologisch­e System wird das einzig mögliche Überlebens­modell für unseren Planeten sein. Daher hat auch das industriel­le Fließbandm­odell von Schule ausgedient. Das Modell für die Zukunft der Schule ist die ökologisch­e Schule, die Kindern schon früh vermittelt, dass wir auf der Erde alle Teile eines gemeinsame­n Ganzen sind und dass wir alle nur gemeinsam überleben können. Die ökologisch­e Schule ist ein lebender und sich selbst steuernder Organismus, vernetzt mit seinem sozialen Umfeld.

Das Wissen, wie eine Schule aussehen müsste, die sich an den individuel­len Bedürfniss­en der Schüler orientiert, ist bekannt. Es gibt kein Konzeptdef­izit, es besteht ein Handlungsd­efizit. Und es herrscht viel Angst, Tabus anzugreife­n. Viele Wege führen zur Schule der Zukunft, eines haben diese Wege aber gemeinsam: Es geht um harte Arbeit, unermüdlic­he Verbesseru­ngen und ständige Zukunftsin­vestitione­n über sehr lange Zeiträume. Auf diesem Weg finden sich weder Abkürzunge­n noch magische Erfolgsrez­epte.

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© MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN

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