Warum es an den Schulen einer Revolution des Lernens bedarf
Der Schule fehlt eine wirkliche Einbindung in unsere Gesellschaft. Ein Plädoyer für eine ökologische Schule als lebenden und sich selbst steuernden Organismus und gegen die Angst, Tabus anzugreifen.
Wer über mehr Bildung verfügt, wird seltener gekündigt, verdient mehr und zahlt daher höhere Steuern, ist in geringer Gefahr, kriminell zu werden, wird seltener krank und lebt deutlich länger. Diesen Bildungsreichtum vererbt er mit hoher Wahrscheinlichkeit an seine Kinder. So einfach ist das. Wenn Österreich daher keine grundlegende Bildungsreform schafft, dann werden die Sozial- und Gesundheitskosten weiter explodieren, weil man jeden fünften jungen Menschen in neun Jahren im Schulsystem völlig vernachlässigt, um ihn danach sechzig Jahre lang erhalten zu müssen. Wir werden uns alle beim Thema Schule in zehn, zwanzig Jahren fragen lassen müssen, ob wir alles getan haben, was wir konnten, damit Österreich auch weiterhin zu den reichsten und sichersten Ländern der Welt gehört.
Die Welt teilt sich in Zukunft nicht in Starke und Schwache oder Schnelle und Langsame. Die Welt teilt sich in die Lerner und die Nicht-Lerner. verharrt schon viel zu lange zögernd vor der Weggabelung zwischen den lernenden und den nichtlernenden Nationen.
Verlassen wir daher für einige Augenblicke die kleine Welt von Österreich mit seinen 8,8 Millionen Einwohnern und 1,2 Millionen Schülern und werfen einen Blick auf die große Welt mit acht Milliarden Bewohnern und über zwei Milliarden Kindern. Laut Unesco werden in den nächsten 30 Jahren mehr Menschen eine Schulausbildung abschließen als in der gesamten Geschichte der Menschheit. Diese gewaltige Herausforderung lässt sich mit traditionellem Klassenzimmerunterricht nicht bewältigen, weil es nie genug Lehrer und Geld dafür geben wird. Der notwendige Entwicklungssprung wird sicher nicht von den Bildungsministerien ausgehen, weil diese in ihren eigenen Denkmustern gefangen sind. Wie schon der langjährige CEO von Google, Eric Schmidt, treffend gesagt hat: „Innovation kommt nie aus etablierten Organisationen. Es bedarf immer eines scheinbar verrückten Schülers oder Studenten, jedenfalls eines Außenseiters.“
Längst hat sich eine Allianz der klügsten Köpfe und der reichsten Philanthropen gebildet, die erkannt hat, dass die Bewältigung der Bildungsfrage die Voraussetzung für die Lösung aller großen globalen Herausforderungen wie Hunger, Armut, Krankheiten, Unterdrückung, Meinungsfreiheit und Umweltschutz ist. Es bedarf dazu einer Revolution des und vor allem Lösungen, die für Abermillionen
D Menschen skalierbar sind. azu drei Beispiele: Im Mai 2012 haben die Präsidentinnen der Harvard University und des MIT (Massachusetts Institute of Technology), Drew Faust und Susan Hockfield, bekannt gegeben, dass sie über die gemeinsame Plattform edX (www.edx.org) ihr gesamtes Wissen der ganzen Welt überall kostenlos zur Verfügung stellen werden. Alle Vorträge, Seminare und Lehrinhalte werden über diese eigens gestaltete Onlineplattform angeboten. Interessierte Studenten können damit auch kostenlose Harvard- und MIT-Abschlüsse machen, so sie die entsprechenden Prüfungen online ablegen. Alle Universitäten werden eingeladen, sich dieser Plattform anzuschlieÖsterreich ßen. Jeder Mensch, der über einen Computer mit Internetzugang verfügt, wird kostenlos die Vorlesungen der besten Wissenschaftler der Welt „besuchen“, diesen Fragen stellen und mit anderen Studenten darüber diskutieren können.
Wer glaubt, dass das alles nur ein Programm für eine intellektuelle Minderheit sein wird, sollte sich mit dem gewaltigen Erfolg der Website www.ted.com auseinandersetzen. TED (Technology, Entertainment, Design) hat bisher mit seinen tausend Videovorträgen von Nobelpreisträgern, Wissenschaftlern, Erfindern, Künstlern und Visionären wie Bill Gates oder Amazon-Gründer Jeff Bezos weit mehr als eine Milliarde Besucher angelockt. Mit mehr als elf Millionen Sehern führt Ken Robinson mit seinem legenLernens
dären Vortrag „Warum Schulen unsere Kreativität töten“.
Am revolutionärsten denkt Salman Khan, der Tausende Video-Lektionen von jeweils zehn Minuten Länge auf seiner Website www.khanacademy.org gestaltet hat. Diese führen auf einfache Weise in Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte ein. Zehn Minuten deshalb, weil das aufgrund von Forschungen die maximale Aufmerksamkeitsspanne für die meisten Schüler – und Erwachsenen – ist. Schüler, die an einem bestimmten Punkt in Mathematik nicht weiterkommen und deutlich hinter ihre Klasse zurückfallen, sind deshalb nicht einfach zu dumm, sondern brauchen mehr Zeit und Hilfe, diese Hürde zu nehmen. Die Khan Academy hat aufgrund ihrer gesammelten Daten herausgefunden, dass es gerade diese Schüler sind, die dann sogar den Rest der Klasse überholen können, sobald ihnen „der Knopf aufgegangen ist“. Im alten Schulsystem werden diese Kinder aussortiert und fallen durch. Das Beispiel zeigt das enorme
W humanistische Potenzial. arum ist der Begriff Revolution gerechtfertigt? Die Erfindung des Buchdrucks machte das geschriebene Wort plötzlich nicht nur für eine kleine Minderheit, sondern für Millionen zugänglich. Innovative Plattformen wie edX, TED oder die Khan Academy ermöglichen das erste Mal in der Geschichte allen Lernenden, sich die besten Lehrer der Welt als die ihren auszuwählen, kostenlos und wann immer sie wollen.
Stellen wir uns drei Fragen:
Glauben wir wirklich, dass in zwanzig Jahren noch immer ein Lehrer mit dem Rücken zu seinen Schülern vor einer Tafel stehen wird, um mit Kreide Formeln draufzuschreiben, die er dann wieder löscht, sobald die Tafel voll ist? Glauben wir wirklich, dass es sich die Regierungen angesichts immer knapperer Budgets noch lange werden leisten können, mit aufgeblähten Schulverwaltungen ein System zu erhalten, das für immer weniger Schüler immer mehr Lehrer benötigt und trotzdem die Kosten der Eltern für Nachhilfestunden explodieren lässt? Und glauben wir wirklich, dass im 21. Jahrhundert in Österreich eine Institution, deren Hauptzweck das Lernen ist, überleben kann, deren 120.000 Mitglieder nicht alle zumindest über einen eigenen Computer verfügen, in Teams arbeiten und sich ständig weiterbilden müssen?
Unser Schulsystem ist eine relativ junge Institution, die in ihrer heutigen Form erst mit dem Beginn der Industrialisierung geschaffen wurde. Daher fehlt der Schule von Anfang an die Einbindung in unsere Gesellschaft, die zum Beispiel in der Wirtschaft jahrhundertelang durch die Bauern, Märkte, Handwerker, Kaufleute, Handelsschiffe und Banken immer gegeben war. Die Wirtschaft war immer Teil unseres Lebens, so wie Sport, Technik oder Kultur. Genau diese Verflechtung mit unserer täglichen Welt brauchen die Schulen in Zukunft, wenn sie nicht zu Museen einer längst vergangenen Zeit verkommen wollen. Und dazu müssen wir Mauern niederreioft
ßen. Die Schule von morgen muss sich endlich als Teil unserer Gemeinschaft und die Gemeinschaft muss sich als wichtiger
D Ort des Lernens verstehen. er lebende Organismus, das sich selbst steuernde ökologische System wird das einzig mögliche Überlebensmodell für unseren Planeten sein. Daher hat auch das industrielle Fließbandmodell von Schule ausgedient. Das Modell für die Zukunft der Schule ist die ökologische Schule, die Kindern schon früh vermittelt, dass wir auf der Erde alle Teile eines gemeinsamen Ganzen sind und dass wir alle nur gemeinsam überleben können. Die ökologische Schule ist ein lebender und sich selbst steuernder Organismus, vernetzt mit seinem sozialen Umfeld.
Das Wissen, wie eine Schule aussehen müsste, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Schüler orientiert, ist bekannt. Es gibt kein Konzeptdefizit, es besteht ein Handlungsdefizit. Und es herrscht viel Angst, Tabus anzugreifen. Viele Wege führen zur Schule der Zukunft, eines haben diese Wege aber gemeinsam: Es geht um harte Arbeit, unermüdliche Verbesserungen und ständige Zukunftsinvestitionen über sehr lange Zeiträume. Auf diesem Weg finden sich weder Abkürzungen noch magische Erfolgsrezepte.