Ist die Mathematik in der Schule noch zu retten?
Neues Denken und neue Ansätze: Nicht ausgefuchste Testaufgaben können das Ziel sein, sondern solche, die klar formuliert und in Zusammenarbeit mit praktisch tätigen Personen entwickelt wurden.
Und immer wieder die Mathematik. Bei keinem anderen Schulfach scheiden sich derart die Geister. Nur wenige Maturanten haben durchgehend positive Assoziationen mit dem Mathematikunterricht. Dazu kommt, dass viele von vorneherein an der Sinnhaftigkeit der höheren Mathematik in der Schule zweifeln. Seit Jahren ist Mathematik in den Nachhilfeinstituten das Fach Nummer eins, 80 Prozent der Mathematik-Nachhilfeschüler kommen aus der Oberstufe. Und jetzt die Zentralmatura: Fast wie bei einer selbsterfüllenden Prophezeiung gab es bei rund jedem fünften Maturanten ein „Nicht genügend“bei den schriftlichen Klausuren. Bei nicht wenigen verstärkt sich der Eindruck, dass Mathematik als „Selektionsfach“dienen soll. Diese vielen negativen Konnotationen hat das Fach nicht verdient! Gibt es Gründe für die vielfältigen Sorgen und Probleme betreffend Mathematik?
Aus der Hirnforschung wissen wir, dass Höchstleistungen dann entstehen, wo Neugier und Interesse geweckt werden. Freude am Lernen entsteht dort, wo ein beziehungsreiches Klima des gemeinsamen Wachsens geschaffen wird, möglichst angstfrei. Wesentlich ist eine positive Beziehung zum Fach. Nicht wenige Schüler kommen vorurteilsbeladen in den Mathematik-Unterricht. Bei der letzten Bildungsstandard-Testung 2016 auf der 8. Schulstufe hat sich gezeigt, dass selbst 51 Prozent der sehr guten Mathematikschüler eine schlechte Beziehung zum Fach an sich haben. Zusätzlich dreht sich in den höheren Schulen alles nur noch um das Lösen von zentral vorgegebenen Aufgabenstellungen. Scheinbar unentrinnbar droht die zentralmaturielle Keule, manche Lehrer selbst sehen sich als Opfer einer Entwicklung, die durch sie kaum noch beeinflussbar ist. Der auf Grundkompetenzen ausgerichtete Teil der Matura bereitet besonderes Kopfzerbrechen. Dabei ist Mathematik in erster Linie ein Kulturfach. Es hat zu tun mit Denkfähigkeit, mit dem Verständnis der Welt und der Freude daran, komplexe Problemstellungen zu bewältigen. Keineswegs geht es nur darum, stur bestimmte Beispiele zu lösen. In der Oberstufe ginge es verstärkt darum, zu erfahren, dass mit mathematischen Errungenschaften Erkenntnisse einhergehen, die Bezüge zur Dimension des Daseins knüpfen. Diese Erkenntnisse werden von vorneherein gar nicht als „mathematisch“gesehen, z. B. die Entdeckung der Unendlichkeit. Der erfolgreiche Mathematikunterricht wird sein Gelingen daran messen müssen, wie positiv sich das Bild von Mathematik dem Durchschnittsschüler einer allgemeinbildenden höheren Schule dauerhaft eingeprägt hat.
Da ist noch viel zu tun! Die Basis ist eine Versöhnung mit dem Fach! Einstellungen zur Mathematik müssen hinterfragt werden, die Sinndimension gerade durch die Kompetenzorientierung immer wieder vor Augen geführt werden. Das ist in erster Linie eine mentale Dimension. Auch wenn sich Mathematik als exakte Wissenschaft versteht, gilt es, in einem guten Beziehungsklima und einen positiven Zugang zum Denken zu lehren. Wichtig ist die Freude des Verstehens zu vermitteln und verlässlich Verständnisschwierigkeiten erkennen zu wollen. Angst, die hinunterzieht, darf keinesfalls das leitende Gefühl aller mathematischer Begegnungen sein. Und dann die Sprache: Zu viele scheitern an komplexen sprachlichen Formulierungen der Aufgabenstellungen verbunden mit eventuell zu geringer Lesekompetenz. Nicht ausgefuchste Testaufgaben können das Ziel sein, sondern solche, die klar formuliert und in Zusammenarbeit mit praktisch tätigen Personen entwickelt wurden. Gerade in Mathematik brauchen wir fachlich exzellente und pädagogisch einfühlsame Lehrer.
Zu guter Letzt muss hinterfragt werden, ob Maturanten die meiste Energie für ein Fach aufbringen müssen, in dem sie die meisten Schwierigkeiten haben. Fehlt diese Energie nicht dort, wo individuelle Begabungen entfaltbar wären? Denn nur darauf kommt es im Leben an: dass jemand seine spezifischen Begabungen letztlich auch beruflich verwerten kann.
geb. 1959, leitet die Schulpsychologie des Landesschulrats Steiermark und lehrt an der Pädag. Hochschule und Universität Graz