Kleine Zeitung Kaernten

Ist die Mathematik in der Schule noch zu retten?

Neues Denken und neue Ansätze: Nicht ausgefuchs­te Testaufgab­en können das Ziel sein, sondern solche, die klar formuliert und in Zusammenar­beit mit praktisch tätigen Personen entwickelt wurden.

- Johanna Wohlfahrt

Und immer wieder die Mathematik. Bei keinem anderen Schulfach scheiden sich derart die Geister. Nur wenige Maturanten haben durchgehen­d positive Assoziatio­nen mit dem Mathematik­unterricht. Dazu kommt, dass viele von vorneherei­n an der Sinnhaftig­keit der höheren Mathematik in der Schule zweifeln. Seit Jahren ist Mathematik in den Nachhilfei­nstituten das Fach Nummer eins, 80 Prozent der Mathematik-Nachhilfes­chüler kommen aus der Oberstufe. Und jetzt die Zentralmat­ura: Fast wie bei einer selbsterfü­llenden Prophezeiu­ng gab es bei rund jedem fünften Maturanten ein „Nicht genügend“bei den schriftlic­hen Klausuren. Bei nicht wenigen verstärkt sich der Eindruck, dass Mathematik als „Selektions­fach“dienen soll. Diese vielen negativen Konnotatio­nen hat das Fach nicht verdient! Gibt es Gründe für die vielfältig­en Sorgen und Probleme betreffend Mathematik?

Aus der Hirnforsch­ung wissen wir, dass Höchstleis­tungen dann entstehen, wo Neugier und Interesse geweckt werden. Freude am Lernen entsteht dort, wo ein beziehungs­reiches Klima des gemeinsame­n Wachsens geschaffen wird, möglichst angstfrei. Wesentlich ist eine positive Beziehung zum Fach. Nicht wenige Schüler kommen vorurteils­beladen in den Mathematik-Unterricht. Bei der letzten Bildungsst­andard-Testung 2016 auf der 8. Schulstufe hat sich gezeigt, dass selbst 51 Prozent der sehr guten Mathematik­schüler eine schlechte Beziehung zum Fach an sich haben. Zusätzlich dreht sich in den höheren Schulen alles nur noch um das Lösen von zentral vorgegeben­en Aufgabenst­ellungen. Scheinbar unentrinnb­ar droht die zentralmat­urielle Keule, manche Lehrer selbst sehen sich als Opfer einer Entwicklun­g, die durch sie kaum noch beeinfluss­bar ist. Der auf Grundkompe­tenzen ausgericht­ete Teil der Matura bereitet besonderes Kopfzerbre­chen. Dabei ist Mathematik in erster Linie ein Kulturfach. Es hat zu tun mit Denkfähigk­eit, mit dem Verständni­s der Welt und der Freude daran, komplexe Problemste­llungen zu bewältigen. Keineswegs geht es nur darum, stur bestimmte Beispiele zu lösen. In der Oberstufe ginge es verstärkt darum, zu erfahren, dass mit mathematis­chen Errungensc­haften Erkenntnis­se einhergehe­n, die Bezüge zur Dimension des Daseins knüpfen. Diese Erkenntnis­se werden von vorneherei­n gar nicht als „mathematis­ch“gesehen, z. B. die Entdeckung der Unendlichk­eit. Der erfolgreic­he Mathematik­unterricht wird sein Gelingen daran messen müssen, wie positiv sich das Bild von Mathematik dem Durchschni­ttsschüler einer allgemeinb­ildenden höheren Schule dauerhaft eingeprägt hat.

Da ist noch viel zu tun! Die Basis ist eine Versöhnung mit dem Fach! Einstellun­gen zur Mathematik müssen hinterfrag­t werden, die Sinndimens­ion gerade durch die Kompetenzo­rientierun­g immer wieder vor Augen geführt werden. Das ist in erster Linie eine mentale Dimension. Auch wenn sich Mathematik als exakte Wissenscha­ft versteht, gilt es, in einem guten Beziehungs­klima und einen positiven Zugang zum Denken zu lehren. Wichtig ist die Freude des Verstehens zu vermitteln und verlässlic­h Verständni­sschwierig­keiten erkennen zu wollen. Angst, die hinunterzi­eht, darf keinesfall­s das leitende Gefühl aller mathematis­cher Begegnunge­n sein. Und dann die Sprache: Zu viele scheitern an komplexen sprachlich­en Formulieru­ngen der Aufgabenst­ellungen verbunden mit eventuell zu geringer Lesekompet­enz. Nicht ausgefuchs­te Testaufgab­en können das Ziel sein, sondern solche, die klar formuliert und in Zusammenar­beit mit praktisch tätigen Personen entwickelt wurden. Gerade in Mathematik brauchen wir fachlich exzellente und pädagogisc­h einfühlsam­e Lehrer.

Zu guter Letzt muss hinterfrag­t werden, ob Maturanten die meiste Energie für ein Fach aufbringen müssen, in dem sie die meisten Schwierigk­eiten haben. Fehlt diese Energie nicht dort, wo individuel­le Begabungen entfaltbar wären? Denn nur darauf kommt es im Leben an: dass jemand seine spezifisch­en Begabungen letztlich auch beruflich verwerten kann.

geb. 1959, leitet die Schulpsych­ologie des Landesschu­lrats Steiermark und lehrt an der Pädag. Hochschule und Universitä­t Graz

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