Der Islam und das Fegefeuer der Moderne
Christopher De Bellaigues furioses Buch über das Ringen von Glauben und Vernunft.
Sie stammte aus gutem Haus und wollte sich nicht mit der untergeordneten Rolle abfinden, welche die Gesellschaft ihr zuwies. Unerschrocken durchbrach sie die traditionellen Muster ihrer Zeit und begab sich in das neue Minenfeld der Frauenrechte. Ihre Waffe war die Schreibfeder. Ihre Romane handeln von Frauen, die freimütig über ihr Leben und ihre Liebe sprechen und mit fremden Männern über Philosophie diskutieren. Von wem ist hier die Rede? Von Charlotte Brontë? Weit gefehlt! Bei der furchtlosen Kämpferin gegen die Männerdiktatur handelt es sich um Fatma Aliye (1862–1936), die im späten Osmanischen Reich als erste Schriftstellerin der türkischen Literatur auftrat.
Der britische Journalist Christopher De Bellaigue hebt ihr Leben und Wirken als eines von vielen Beispielen hervor, um das von Dünkeln und Triumphalismus geprägte Bild Lügen zu strafen, das sich der Westen von der islamischen Welt macht. Diese habe die Aufklärung verpasst, lautet – befeuert durch die Grausamkeiten, die heute im Namen des Islam begangen werden – das gängigste Vorurteil unserer Tage. Doch das Gegenteil sei der Fall, so De Bellaigue.
In seinem Buch „Die islamische Aufklärung“schildert er anhand der drei geistigen und politischen Zentren des Nahen und Mittleren Ostens Kairo, Istanbul und Teheran, wie sich, ausgehend von Napoleons Expedition nach Ägypten 1798, die islamische Welt in den vergangenen 200 Jahren modernisierte. Wie sie die revolutionären Ideen der Befreiung des Individuums und des Wissens aufsog und nach Vorbild des nachaufklärerischen Nationalstaats demokratische Institutionen ausbildete, bis Ende der Siebzigerjahre als Reaktion auf das selbstherrliche Gebaren des Westens mit Khomeinis Revolution im Iran und der Ankunft des militanten Islamismus in Ägypten und anderswo der gegenaufklärerische Gegenstoß erfolgte und der Glaube über die Vernunft wieder scheinbar die Überhand gewann. Für wie lange? Das bleibt offen. Aber der Arabische Frühling und die Proteste im Iran und in der Türkei zeigen, dass die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Moderne voll im Gange ist.