„Die Grenzen Europas liegen am Ural“
Stefan Karner ist Co-Vorsitzender der Österreichisch-Russischen Historikerkommission. Ein neues Buch beleuchtet die gemeinsame Geschichte der beiden Staaten.
lag bei uns. Das ist ziemlich einzigartig. Wir diskutierten drei Jahre lang unsere eigenen Sichtweisen, um dann einen gemeinsamen Nenner zu suchen. Wir haben ihn auch gefunden, ohne die schwierigen Themen auszuklammern. Das gab es bislang nicht. Weder bei den ähnlichen Projekten Russland – Deutschland noch bei Russland – Polen.
Wie lief die Kommunikation in der Historikerkommission? Können Sie Russisch?
Ja, ich spreche Russisch. Einen persönlichen Bezug habe ich nicht. Außer, dass ich bei meinen Archivarbeiten draufgekommen bin, dass mein Großonkel, Schneidermeister Leopold Picej aus Kühnsdorf, im Jänner 1942 am Wolchow bei St. Petersburg in sowjetische Kriegsgefangenschaft kam und ein Jahr darauf in einem Kriegsgefangenenlager verhungerte. Ich bin dann selber an den Ort seiner Gefangennahme gefahren und werde bald in jenes Lager reisen, wo er an Auszehrung und Hunger verstarb und begraben liegt.
Wurden oder werden Sie noch von Privatpersonen nach den Schicksalen vermisster Angehöriger befragt?
Und ob! Allein unsere Ankündigung, neues Material zu ehemaligen Stalingrad-Gefangenen gefunden zu haben, hat vor wenigen Wochen zu über 800 Anfragen geführt. Und darunter waren bereits mehr als die Hälfte Enkel der Vermissten.
Gibt es eine Geschichte im Zuge Ihrer Recherchen, die Sie hervorheben möchten?
Einmal etwas nicht Kriegerisches: Vor 500 Jahren, als Columbus Amerika entdeckte, bereiste der steirisch-krainische Diplomat Sigmund von Herberstein im Auftrag der Kaiser Maximilian und Karl V. Russland. Sein Bestseller „Moskovia“legte das fest, was wir in der Schule gelernt haben: Russland gehört nicht nur geographisch, sondern kulturell und politisch zu Europa und: Die Grenzen Europas sind am Ural und am Schwarzen Meer zu finden. Leider haben das einige, gerade in letzter Zeit, immer wieder vergessen, wenn sie die EU mit Europa gleichsetzen.
Was ist für Sie als Historiker beim Blick auf die Gegenwart das auffallendste Merkmal der heutigen Beziehung der beiden Staaten zueinander?
Natürlich das hohe gegenseitige Vertrauen, die Russen lieben Österreich, schätzen unsere Mittlerposition. An die 500 österreichische Firmen werken auf dem russischen Markt, der Warenaustausch und die Direktinvestitionen steigen wieder, trotz der Sanktionen. Wien liegt östlicher als Prag und Laibach/Ljubljana liegt weit westlicher als Graz. Österreich war für den Osten stets wie „ein Türöffner in Richtung Westen“.
Am Ende Ihres Buches gibt es einen Hinweis auf die von Österreich mitgetragenen EU-Sanktionen gegen Russland, auch das Treffen von Bundeskanzler Kurz und Präsident Wladimir Putin im Februar 2018 ist noch erwähnt. Wagen Sie eine Prognose?
Ich erwarte mir von der Bundesregierung Kurz die Fortführung des bisherigen Weges des Dialogs. Dabei trägt Österreich als EU-Mitglied selbstredend alle EU-Beschlüsse mit, auch die Sanktionen gegenüber Russland, bemüht sich aber, besonders im Ukraine-Konflikt um einen substanziellen Dialog. Der Besuch Putins in Wien vor wenigen Tagen und die Sitzung der Bundesregierung in Brüssel waren dazu deutliche Fingerzeige.
des Hauses Romanow unter Zar Nikolaus II. ist das Thema dieses historisch fundierten, flüssig erzählten Porträts des ermordeten Monarchen.
Der letzte Zar. C.H. Beck, 231 Seiten, 23,60 €.
schildert der prominente Historiker, wobei sowohl der Blick auf den Alltag als auch der auf die Geschichte Russlands fasziniert. Das sowj. Jahrhundert. C.H.Beck, 912 S., 39 €.
auf beide russischen Revolutionen widmet sich die Autorin anhand von Tagebüchern, Briefen u. a. unveröffentlichten Quellen.
ist die Persönlichkeit des Staatsmannes, interessant der Einblick in den sowjetischen Machtapparat– eine aufwendig recherchierte Biographie.
Gorbatschow. C.H.Beck, 935 S., 39 €.
und gut zu lesender Querschnitt durch die Geschichte von Deutschen und Russen von einer deutschen Journalistin und
Ex- Moskau-Korrespondentin.
Fremde Freunde. Berlin-Verlag, 560 S., 28 €.