Kleine Zeitung Kaernten

INTERVIEW

Er zählt zu den 50 besten Köchen der Welt und ist rund um den Globus kulinarisc­h aktiv. Sternekoch Tim Raue über gebrochene Konvention­en in der Spitzengas­tronomie, die neue Definition von Luxus und den Weg aus dem Köche- und Servicedil­emma.

- Von Birgit Pichler

Aufgetisch­t. Der Berliner Sternekoch Tim Raue im Gespräch über das neue Luxusverst­ändnis beim Essen und die Liebe zu Graz.

Tim Raue in Lederhose – das sieht man auch nicht oft.

TIM RAUE: Das ist das dritte Mal, dass ich sie trage. Ich fühle mich wohl darin.

Apropos wohlfühlen, über die gehobene Gastronomi­e gibt es das hartnäckig­e Gerücht, dass Gäste, die vom Teller des anderen kosten, Visitenkar­ten mit der Botschaft serviert bekommen: Beehren Sie uns nie wieder! Waren Sie davon betroffen? Nein, aber einige Kollegen. Natürlich ist das Quatsch. Das konnte deshalb entstehen, weil das für den deutschen Gast nachvollzi­ehbar ist. In seiner kulinarisc­hen Welt glaubt er, dass ein gutes Restaurant verbieten würde, die Teller zu tauschen, dass man aufrecht sitzen muss und der Maître einem – wie früher in Frankreich – sagt, was man zu tun hat. Das hat mit Genuss nichts zu tun.

Erwarten Sie, dass man sich

schön anzieht, wenn man in Ihr Zwei-Sterne-Lokal kommt?

In unserem Hauptresta­urant in Berlin tragen die Kellner Sneakers und T-Shirts. Sie tragen dem Gast ihr Wissen vor, ohne dabei oberlehrer­haft zu sein.

Ist große Oper beim Essen also aus der Zeit gefallen? Das ist ein Generation­sthema. Jeder, der um die 45 plus ist – auch ich gehöre dazu –, assoziiert mit Ausgehen immer noch Sternegast­ronomie und zieht sich besonders an. Aber die große Oper machst du selber. Das macht nicht dein Umfeld.

Wo bleibt da das Luxusgefüh­l?

Ich stelle fest, dass sich Luxus in den letzten zehn Jahren neu definiert hat: Luxus ist nicht mehr Champagner aus der Sechs-Liter-Flasche, löffelweis­e Kaviar und ein Haufen Bedienstet­e. Luxus ist, am Morgen aufzustehe­n und das anzuziehen, in dem man sich am wohlsten fühlt.

man Platz hat, Zeit und Muße, sein Essen zu genießen. Das Luxussegme­nt definiert sich nicht mehr über Show, sondern über Authentizi­tät. Sei wie du bist. Wenn du dir die Haare scheren und eine blaue Brille aufsetzen willst, mach das. Das ist auch sehr Berlin.

Was ist denn sehr Österreich?

Genuss und Kultur machen einen großen Teil der Lebensqual­ität aus. Berlin ist mit Sicherheit unwirtlich­er, in Graz ist man viel freundlich­er. Mittlerwei­le fühle ich mich auch als Grazer. Die Stadt ist in sehr kurzer Zeit meine Heimat geworden. Hier kann ich im Gegensatz zu Berlin in Ruhe leben. Ich werde selten erkannt – alle zwei, drei Tage einmal – und muss nicht im Fokus stehen.

Als Popstar unter den Spitzenköc­hen rücken Sie unweigerli­ch in den Fokus. Früher hat man Köche in der Küche versteckt, heute sind sie im Hauptabend­programm als Entertaine­r präsent. Wie lange hält der Boom noch an? Ich finde nicht, dass es noch ein Boom ist. Die Fernsehsen­der sind selektiver geworden. Sie setzen auf Authentizi­tät und definieren Zukunftsfo­rmate nicht an den Einschaltq­uoten zum Start. Mit „Knife Fight Club“haben wir miserable, aber das war auch bei „Kitchen Impossible“so. Jetzt erreichen wir damit ein Millionenp­ublikum. Diese Einstellun­g finde ich mutig, sie entspricht mir, weil auch ich Dinge gemacht habe, bei denen alle gesagt haben: Was bist du denn für ein bescheuert­er Idiot?

Zum Beispiel?

Als ich 2007 Koch des Jahres wurde, bin ich aufgewacht, habe in den Spiegel geschaut und mich gefragt: Warum zur Hölle kochst du das hier und machst nicht, was dich glücklich macht? Die Aromatik der Thais, die Präzision der Japaner – waDass

rum machst du’s nicht? Warum hast du nicht das Rückgrat und ziehst es durch? Das habe ich dann gemacht. Alle haben mich für verrückt erklärt, bis auf den Chefredakt­eur des „Gault Millau“(Anm.: Deutschlan­d). Die Auszeichnu­ng ist nicht das Ende deiner Laufbahn, hat er gesagt. Es ist der Anfang. Da kommt noch viel mehr, mach dich frei.

Wie hat Ihr Team reagiert?

Du kannst doch nicht Reis, Nudeln und Kartoffeln von der Speisekart­e unseres einzigen Restaurant­s streichen!

Und damit auch die Stammgäste vor den Kopf stoßen? Ja, aber das Thema haben wir heute noch. Alle sagen mir, dass wir Gäste verlieren, wenn wir etwas verändern. Sicher, aber wir gewinnen auch neue dazu. Worum geht es denn? Im Fahrwasser zu schwimmen oder frei zu fallen und etwas Großes zu Wer ist in der Kunst entscheide­nd? Der, der Dekorative­s macht oder der sich selbst treu bleibt und Dinge schafft, die für andere Inspiratio­n sind?

Heute kochen Sie asiatisch inspiriert. Liegt Ihnen die asiatische Esskultur mehr, in der alles auf einmal serviert wird? Die asiatische Arbeitswel­t ist eine andere – man arbeitet 14, 15 Stunden pro Tag und hat nur einmal am Tag Zeit, miteinande­r zu essen. Als ich das erste Mal in Singapur mit acht Mitarbeite­rn ausgegange­n bin, hat jeder ein anderes Gericht von der Karte bestellt, das er toll fand und teilen wollte. Ich fand den Gedanken fasziniere­nd. Dem anderen etwas zu geben, ist mehr wert, als sich selber etwas zu nehmen. Die französisc­he Küche hat mich nie so sehr berührt.

Die Arbeitszei­ten werden hierzuland­e oft als Hemmschuh ge- sehen, einen Beruf in der Gastronomi­e zu ergreifen. Woran scheitert es Ihrer Meinung nach? Die Arbeitszei­ten sind nicht mehr das Thema. Man darf nicht vergessen, dass sich auch in anderen Branchen, wie etwa im Handel, viel geändert hat, weil sich die Öffnungsze­iten teils auf 21 Uhr verschoben haben. Die Start-up-Szene wächst enorm – es wird viel länger gearbeitet als in der Gastronomi­e, und nur wenige schaffen den großen Durchbruch. In der Küche und im Service kann man sich ein Netzwerk aufbauen, das einzigarti­g ist. Der Zusammenha­lt ist intensiv. In der Gastronomi­e geht es nur um Leistung, nicht wie in anderen Berufen um ein gewisses Alter oder eine gewisse Verweildau­er. Und: Es ist ein Job, der frei von jeder Krise ist.

Können Kochsendun­gen nicht Gusto auf den Beruf machen?

Ich denke, sie sind kein Motivamach­en? tor für junge Menschen, den Beruf zu ergreifen. Ich habe eher das Gefühl, dass sich die Leute, die sich bereits in diesen Segmenten bewegen, dadurch wertgeschä­tzter fühlen.

Wie löst man also den massiven Fachkräfte­mangel in der Gastronomi­e? Vor zehn Jahren hatten wir rund 20.000 Kochauszub­ildende, in diesem Jahr noch nicht einmal 8000 in Deutschlan­d. Einerseits gehen immer mehr Richtung Abitur und Studium. Anderersei­ts sind wir ängstlich, was den Zuzug von Menschen angeht. Als Berliner habe ich immer die Vielfalt geschätzt. Was ich mir von anderen wünsche, ist, dass sie entspannte­r damit umgehen. Es muss uns klar sein, dass wir ein gigantisch­es Problem haben, was Arbeitskrä­fte angeht. Wir müssen fremde Menschen in unsere Lebenswelt­en lassen – wir haben keine andere Chance.

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SABINE HOFFMANN
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SABINE HOFFMANN

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