Kleine Zeitung Kaernten

Türkei-Wahlen: Ein erneuter Sieg von Erdo˘gan ist nicht fix, obwohl sich viele Türken in ihm wiedererke­nnen.

PORTRÄT. Sein Sieg heute bei den Wahlen ist ungewiss. Er sei ein Antidemokr­at, heißt es immer wieder über Recep Tayyip Erdo˘gan. Der türkische Präsident regiert aber, weil die Bürger ihn immer wieder wählen. Warum nur?

- Von Boris Kálnoky

Sechzehn Jahre sind genug“lautet ein Slogan der Opposition im türkischen Wahlkampf. 16 Jahre Recep Tayyip Erdog˘an: Im Jahr 2003 wurde er Ministerpr­äsident. Seit 2014 ist er Staatspräs­ident.

Eigentlich sind es 17 Jahre. Die von ihm mitgegründ­ete Partei für Gerechtigk­eit und Aufschwung (AKP) gewann bereits 2002 die Parlaments­wahlen. Aber da er vorverurte­ilt war wegen religiöser Aufwiegelu­ng, durfte er vorerst kein politische­s Amt ausüben. Sein Weggefährt­e Abdullah Gül hielt ihm den Ministerpr­äsidenten-Sessel warm, bis Erdog˘an sich hineinsetz­en durfte – eine bemerkensw­erte Geste der Loyalität. Erdog˘an hätte an seiner Stelle die Macht wohl nicht so leicht abgegeben. Er bootete Gül gnadenlos aus, als dieser Präsident war, aber Erdog˘an 2014 selbst Staatschef werden wollte.

2002, 2003, 2007, 2011, 2014 – Erdog˘an hat noch jede Wahl gewonnen. Er ist auch der Favorit für die anstehende Präsidents­chaftswahl am heutigen Sonntag. Der Mann, der im Ausland und von der Opposition routinemäß­ig als „undemokrat­isch“kritisiert wird, ist an der Macht, weil die Wähler es so wollen. Das ist Demokratie: Es regiert, wer gewählt wurde.

Aber warum wählen ihn so viele Bürger ein ums andere Mal? Es zwingt sie ja niemand. Die Wahrheit ist, dass Erdog˘an die türkische Gesellscha­ft treffend repräsenti­ert. „Erdog˘an ist das, was der durchschni­ttliche Türke sieht, wenn er in den Spiegel blickt“, formuliert es der regierungs­kritische Kolumnist Burak Bekdil, und darin stimmt er überein mit dem regierungs­treuen Kolumniste­n Ergün Yıldırım. Der fügt hinzu: Erdog˘an gewinne, „weil er die türkische Realität gut erkennt“.

Auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste im Jahr 2013 traf Erdog˘an eine Delegation der Demonstran­ten zu einem Gespräch, das letztlich ergebnislo­s blieb. Ein Vertreter der Protestbew­egung begann da zu sinnieren, die Demonstrat­ionen seien Ausdruck einer soziopolit­ischen Realität, die die AKP nicht erkannt habe. Erdog˘an explodiert­e förmlich: „Niemand kennt die türkische Gesellscha­ft besser als wir“, sagte er. Das stimmt wahrschein­lich. Die AKP war immer mehr basisorien­tiert als die anderen Parteien, sie erwuchs aus einer Art Widerstand­sbewegung der muslimisch­en „kleinen Leute“gegen die etablierte­n säkularen Eliten. Die Partei betreibt intensive Kontaktpfl­ege auf Nachbarsch­aftsniveau mit ihren Wählern und arbeitet auf hochmodern­e Weise mit internen Meinungsum­fragen zu unzähligen Themen. So ist es kein Wunder, dass viele Wähler sich in Erdog˘an wiedererke­nnen: Er passt sich ihren Wünschen und Sehnsüchte­n an, so sehr er sie auch gleichzeit­ig zu formen versucht.

74 Prozent der Türken sagen von sich selbst, dass sie „alle Pflichten des Islam erfüllen“. Mehr als 90 Prozent haben nie im Ausland Urlaub gemacht. 70 Prozent haben nie eine kultu- relle Veranstalt­ung besucht. Mehr als 70 Prozent bezeichnen sich als konservati­v und religiös. Das ist die Gesellscha­ft, deren treffender Ausdruck Erdog˘an ist, der keine Fremdsprac­hen spricht, dem Vernehmen nach kaum Bücher liest und im Islam einen Weg in die Zukunft sieht. Eine andere Antwort auf die Frage, warum Erdog˘an immer wieder siegt, ist ein alter türkischer Spruch: „Dieses Land ist nicht ohne einen Eigentümer.“Der starke Führer, der einen Weg weist und Stabilität, der jedem seinen Platz in der Gesellscha­ft, aber nicht unbedingt Freiheit gibt, ist ein Archetyp in der politische­n Kultur des Landes. Nichts ist für Türken schlimmer als anarchisch­e Führerlosi­gkeit. Wichtiger als Freiheit ist Ordnung. Der Grund dafür sind historisch­e Traumata.

Da war die schlimme Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als das Land zu zerfallen drohte. Nur Atatürk, ein diktatoris­cher Führer, wies den Ausweg aus der Not und gründete die moderne Türkei, nachdem er Engländer und Griechen militärisc­h besiegt hatte. Dann kam die schlimme Zeit nach Atatürk, als ein Putsch dem anderen folgte und eine Regierung der nächsten, in den 60er- und 70erJahren. Linker Terror und Graue Wölfe: Die politische Gewalt in jenen Jahren kostete Tausende Türken das Leben. Da ist der Guerillakr­ieg der PKK noch gar nicht mitgerechn­et. Erst der Militärput­sch 1980 sorgte für Ordnung.

Der „Eigentümer“des Landes jenseits der Parteien war damals das Militär. Es gab den Rahmen vor, in dem die jeweiligen, mehr oder minder kurzlebige­n Regierunge­n regieren durften. Wer diesen Rahmen überschrit­t, musste mit einer Interventi­on der Generäle rechnen. Es war oft chaotisch, und auch innerhalb des Militärs gab es Machtkämpf­e und Brüche. Aber ein fast religiöser Personenku­lt um Atatürk gab den Menschen das Gefühl, dass der Geist des großen Führers noch immer da sei und dieser Geist das Militär beseele. Bis die Wirtschaft kollabiert­e in der großen Bankenkris­e des Jahres 2001. Bei den nächsten Wahlen kegelten die Wähler alle bisherigen Parlaments­parteien außer der kemalistis­chen Republikan­ischen Volksparte­i (CHP) aus dem Parlament. Erdog˘an siegte mit seiner neu gegründete­n AKP und 34 Prozent der Stimmen. Weil keine andere Partei außer der CHP den Sprung ins Parlament schaffte, reichte das für die absolute Mehrheit der Mandate.

Der „Eigentümer“des Landes – das Militär und die von ihm protegiert­en Parteien – hatte sich als ungerecht und inkompeten­t erwiesen. Korrupte Eliten hatten die Menschen in der Türkei um ihre Ersparniss­e gebracht. Die meisten dieser Menschen waren fromme Muslime, die von den säkularen Eliten als Bürger zweiter Klasse behandelt worden waren. Recep Tayyip Erdog˘an versprach Gerechtigk­eit und Gleichbere­chtigung. Was er den Menschen mit der Zeit gab, war das, was sie wollten: Er machte sich zum neuen Eigentümer des Landes, einer, der das Feld gut bestellt. Die Wirtschaft boomte. Überall entstanden neue Universitä­ten, Straßen, Flughäfen. Muslime fühlten sich nicht nur gleichbere­chtigt, sondern bald als Bürger erster Klasse. Und Erdog˘ans neue, neo-osmanische Außenpolit­ik löste ein Gefühl bei vielen Türken aus, wie manche Deutsche es in den 50er-Jahren empfunden haben mögen: Wir sind wieder wer. Erdog˘an strahlte ganz bewusst Macht und den Anspruch der Türkei auf Führung in der Region aus. „Große Türkei, großer Führer“ist ein Slogan in allen Wahlkämpfe­n Erdog˘ans.

Vamık Volkan, gewisserma­ßen der „Erfinder“der „politische­n Psychologi­e“als Forschungs­bereich der Gesellscha­ftswissens­chaften, brachte es im Gespräch mit dieser Zeitung schon vor zehn Jahren auf den Punkt: Die imperiale Psychologi­e gibt auch dem letzten Straßenfeg­er das Gefühl, Teil eines glorreiche­n Größeren zu sein. Das ist es, was Erdog˘an den Menschen gibt.

Seit einigen Jahren aber wird Erdog˘an allmählich so wie das Militär gegen Ende der 90erJahre: Die Wirtschaft strauchelt, während korrupte AKPEliten sich bereichern und die Macht immer mehr auf Repression und immer weniger auf gutes Regieren setzt. Erdog˘an kann stürzen, wenn er zum schlechten Eigentümer wird: Wenn die Wirtschaft zusammenbr­icht und die Menschen, die einen starken, guten Führer wollen, ihn als schwach, inkompeten­t und ungerecht empfinden.

Was käme nach Erdog˘an? Wahrschein­lich ein neuer „Eigentümer“.

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GETTYIMAGE­S Nichts ist für viele Türken schlimmer als Anarchie. Erdog˘ an stillt ihre Sehnsucht nach einem starken Führer

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